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Archiv-Artikel

Vor dem ersten Schuss

Sobald es „Anhaltspunkte für bewaffnete Auseinandersetzungen“ gibt, ist der Bundestag zu fragen

VON CHRISTIAN RATH

Die Bundeswehr ist und bleibt ein „Parlamentsheer“. Das hat das Bundesverfassungsgericht gestern entschieden. Die Zustimmung des Bundestags zu „militärischen Unternehmungen“ ist nach Möglichkeit vor dem ersten Schuss einzuholen, sodass das Parlament noch Nein sagen könnte. Dies gelte auch bei Nato-Bündnispflichten.

Das Verfassungsgericht rügt damit zwar konkret den Einsatz von deutschen Awacs-Flugzeugen in der Türkei, einen Einsatz, den die rot-grüne Bundesregierung im Jahr 2003 beschlossen hatte. Kritisiert fühlen kann sich vor allem aber die CDU/CSU, die erst gestern ein umfangreiches sicherheitspolitisches Strategiepapier vorstellte. Kernelement des Konzepts ist das genaue Gegenteil dessen, was das Verfassungsgericht jetzt für rechtens erklärte: die Entscheidungsrechte des Parlaments bei Nato-Einsätzen zu schwächen. Zu dem Konzept gehört auch die Einrichtung eines neuen Nationalen Sicherheitsrats. Koalitionspartner SPD hat sich vehement gegen die Pläne der Union ausgesprochen (siehe unten).

Karlsruhe hat am Mittwoch entschieden, dass die rot-grüne Bundesregierung gegen das Grundgesetz verstieß, weil sie einen Einsatz der Awacs-Aufklärungsflugzeuge nicht vom Bundestag genehmigen ließ. Damals ging es um die deutsche Beteiligung am Irakkrieg. Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) hatte 2003 ausgeschlossen, dass sich die Bundeswehr am US-geführten Einmarsch in den Irak beteiligt. Zugleich hatte Schröder aber der Nato die Erfüllung von Bündnispflichten zugesagt. So wurden vor Kriegsbeginn vier Awacs-Flugzeuge zur Luftaufklärung im Nato-Land Türkei stationiert, weil sich das Land vor Vergeltungsschlägen Saddam Husseins fürchtete. Beteiligt waren 38 deutsche Soldaten und 9 Zivilangestellte.

Die offizielle Begründung Schröders, den Bundestag nicht um ein Awacs-Votum zu bitten, war damals diese: Es handele sich bei den Flügen über der Türkei nicht um einen „bewaffneten“ Einsatz, es gehe nur um „Bündnisroutine“. Tatsächlich hatte der Kanzler wohl vor allem Angst vor Gegenstimmen aus seinem eigenen rot-grünen Lager.

Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts stellte gestern aber unmissverständlich klar: Der Einsatz hätte ein Bundestagsmandat benötigt. Das Vorgehen von Rot-Grün war verfassungswidrig. Die Richter hielten es geradezu für abwegig, das Parlament erst nach einem Angriff des Irak auf die Türkei einzuschalten – wie die inzwischen rot-schwarze Bundesregierung bei der Verhandlung im Februar argumentiert hatte.

Künftig gilt: Der Bundestag muss einem Armeeeinsatz im Ausland schon dann zustimmen, wenn es „greifbare tatsächliche Anhaltspunkte für eine drohende Verstrickung in bewaffnete Auseinandersetzungen“ gibt. Außerdem muss eine „besondere Nähe“ zur Anwendung von Waffengewalt bestehen. Diese Bedingungen waren bei dem Awacs-Einsatz nach Ansicht der Richter eindeutig erfüllt.

Wichtig für die Sicherheitspläne der Union ist, dass die Richter eine Arbeitsteilung zwischen Regierung und Parlament skizzierten. Die Regierung sei für die Gestaltung der deutschen Nato-Politik zuständig. Über die Teilnahme an konkreten Militäreinsätzen entscheide dann aber der Bundestag. Der scheidende Vizepräsident des Gerichts, Winfried Hassemer, betonte, der Bundestag sei bereits „im Zweifel“ zu beteiligen. Das gelte auch bei Operationen im Nato-Bündnis. Hier sei der Parlamentsvorbehalt ein „Korrektiv“ für die naturgemäß geringe parlamentarische Kontrolle bei der Weiterentwicklung des Bündnisses. Klarer kann man den Plänen der Union keine Abfuhr erteilen. Diese fordert, dass bei der Bundeswehr-Beteiligung im Rahmen von schnellen Nato-Eingreiftruppen nicht auf die Zustimmung des Parlaments gewartet werden muss.

Für die Frage, ob ein Bundestagsmandat erforderlich ist oder nicht, räumte Karlsruhe der Bundesregierung keinerlei „Einschätzungsspielraum“ ein. Dies sei vielmehr „gerichtlich voll überprüfbar“. So haben die Richter den Bundestag und auch sich selbst gestärkt. Die Entscheidung, die der konservative Richter Udo Di Fabio vorbereitet hatte, fiel einstimmig.