: Patchwork von oben
Mord im hohen Norden: Mikael Niemis neuer Roman erzählt von Leben, Liebe, Tod im Niemandsland zwischen Schweden und Finnland
VON KATHARINA GRANZIN
Der Norden Schwedens wird gern von oben beschrieben. Das ist zum Beispiel in den gefeierten Kriminalromanen der Åsa Larsson so, in denen die Heldin, bevor etwas anderes passieren kann, zunächst einmal den Flug an den extrem nördlich gelegenen Handlungsort absolvieren muss. Und auch Mikael Niemis neuer Roman, „Der Mann, der starb wie ein Lachs“, stellt der Romanhandlung eine Flugreise voran. Hier: die Reise der ermittelnden Stockholmer Kriminalbeamtin Therese Fossnes an den Ort eines aufzuklärenden Verbrechens.
Die Vogelperspektive auf die Landschaft ist aus Selma Lagerlöfs „Wunderbarer Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen“ sehr vertraut, und die genrebildende Funktion, die diese touristische Sichtweise bei Lagerlöf hatte, kommt ihr bei Niemi ebenso zu. Lagerlöf hat mit dem „Nils Holgersson“ den wohl beliebtesten landeskundlichen Roman der Literaturgeschichte geschrieben. Auch Niemis Roman nimmt über weite Strecken bewusst die Perspektive der unbedarften Ortsfremden an. Das ermöglicht ihm, in einer Grundsätzlichkeit auf kulturelle Eigenarten, Geschichte, Sprache und Politik der Region – des Tornedals im äußersten Norden Schwedens – einzugehen, die für einen zeitgenössischen Roman eher ungewöhnlich ist. Bemerkenswert ist dies auch insofern, als spätestens seit dem riesigen Erfolg von „Populärmusik aus Vittula“, dem Romanerstling von Niemi, die Stadt Pajala am Torneälv ohnehin zu einem der Hotspots in der schwedischen Literatur geworden ist – ohne dass es des vermittelnden Blicks einer Hauptfigur „von außen“ bedurft hätte. Mit dem Einnehmen der touristischen Perspektive scheint Niemi jetzt einen Schritt zurückzugehen und seine Heimat in den Augen der Leser umso stärker als „das Andere“ zu kultivieren. Aber ebendarum geht es hier – um ein nachdrückliches Plädoyer für die gegenseitige Akzeptanz unterschiedlicher Kulturen bei gleichzeitiger Bewahrung der Unterschiede.
Ein landeskundlicher Thesenroman also. Aber einer, wie er unbedingt einmal erfunden werden musste; der als bunter, mitreißender Bastard von Buch auftritt, sich mal als Kriminal-, dann als Liebesroman gibt, in Elementen des magischen Realismus schwelgt, um dann wieder stocknüchtern den Reiseführer zu spielen. Eine durchgehende Handlung gibt es durchaus: Ein Mord ist geschehen. Ein alter Mann, der, wie sich im Laufe der Ermittlungen herausstellt, zeitlebens ein sehr unangenehmer Zeitgenosse war, wurde ermordet – regelrecht aufgespießt auf eine langstieligen Gabel, wie sie zum traditionellen Lachsfang verwendet wird.
Aus Gründen, die nicht näher erläutert werden (gibt es keine kriminalpolizeilichen Ermittler nördlich von Stockholm?), wird die bereits erwähnte junge (und blonde und attraktive) Beamtin aus Stockholm eingeflogen, um den Fall aufzurollen. Therese, die bereits im Flugzeug befremdet registriert hat, dass ihre Sitznachbarn Finnisch miteinander sprechen, wird beim Verhör des zunächst Hauptverdächtigen, des etwas sonderbaren (und nicht minder attraktiven) Esaias, auf eine harte Geduldsprobe gestellt. Denn der Verhörte weigert sich, Schwedisch zu sprechen, obwohl er es fließend beherrscht, und lässt einen finnischsprechenden Dolmetscher hinzuziehen. Und dann muss er ohnehin wieder freigelassen werden, weil sich die Verdachtsmomente als haltlos erweisen. Die Fahndung konzentriert sich nun auf ein reisendes Verbrecherpärchen, das darauf spezialisiert ist, alte Menschen in ihren Häusern zu überfallen. Fortan scheinen die Kollegen allein klarzukommen, Therese kann nach Stockholm zurückfliegen – doch nicht, ohne vorher erste zarte Bande zu dem jungen Mann zu knüpfen, der sich im zweisprachigen Verhör so störrisch gezeigt hatte.
Ein Teil eines anderen Romans beginnt nun und schiebt sich zwischen die Fortsetzung des ersten. Dieser Teil spielt zum großen Teil in Stockholm, wo Esaias auftaucht, um gemeinsam mit Therese das Wunder der Liebe zu entdecken. In kleineren Nebenhandlungssträngen materialisieren sich verschiedene Nachtgestalten, bedrohliche, magische, erotische, und unterwandern Thereses nüchternes Stadtleben, das nicht mehr dasselbe zu sein scheint wie vorher.
Den immer noch zu lösenden Kriminalfall verliert Niemi nie völlig aus den Augen, hält die Handlung nur an recht lockerem Zügel und lässt sie hierhin und dorthin wandern, um die Stränge am Schluss in einer großen Volte recht überraschend wieder zusammenzuführen. So überraschend wie konstruiert, muss man sagen. Doch diese Konstruiertheit lässt sich einem Roman wie diesem, der sich in seinem ganzen Habitus nicht wirklich realistisch gibt, kaum vorwerfen. Als ehrlicher Thesenroman und fantasievolle literarische Bastelarbeit hat er jedes Recht auf ein künstliches Ende. Und Niemis großes Plädoyer für die Patchworkgesellschaft findet in dieser Patchworkliteratur die perfekte formale Entsprechung.
Mikael Niemi: „Der Mann, der starb wie ein Lachs“. Aus dem Schwedischen von Christel Hildebrandt. btb, München 2008. 352 Seiten, 19,95 Euro