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Archiv-Artikel

„Ich würde zur Olympia-Eröffnung nach Peking fahren“

Wer Menschenrechte als „ideologische Keule“ benutze, könne den Menschen schaden, sagt Egon Bahr (SPD). Er beklagt eine „weltweite antichinesische Kampagne“

EGON BAHR, 86, war von 1972 bis 1976 Bundesminister in verschiedenen Ressorts. Er entwarf die Strategie des „Wandels durch Annäherung“, an der sich die Ostpolitik der sozialliberalen Bundesregierung orientierte.

taz: Herr Bahr, Angela Merkel, Frank-Walter Steinmeier und Horst Köhler haben angekündigt, nicht an der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele in Peking teilzunehmen. Wenn Sie heute Bundesminister wären, würden Sie hinfliegen?

Egon Bahr: Den Tibetern kann man bei der Erringung ihrer kulturellen Autonomie ohne staatliche Unabhängigkeit nur in einer Phase der Diplomatie und Unaufgeregtheit helfen. Die Gespräche zwischen Chinesen und Tibetern wurden wiederaufgenommen und werden bis zum Beginn der Spiele nicht abgeschlossen sein. Die entscheidende Phase wird danach sein. Deshalb würde ich als Minister hinfahren, wenn ich ohnehin hätte hinfahren wollen. Denn es wird möglich sein, die stolzen Chinesen zu ermutigen, diese Gespräche erfolgsorientiert fortzusetzen.

Hat Sie der Umgang des Westens mit China an Ihre Ostpolitik erinnert?

Ich habe die Unvergleichbarkeit gesehen: In der Ostpolitik hatten wir es mit der Sowjetunion mit einem Partner zu tun, der sehr viel undemokratischer war, als die Chinesen heute sind. Ich habe aber registriert, dass sich US-Präsident George W. Bush viel vorsichtiger als die Bundesregierung geäußert hat. Und da habe ich mich – bei allen Unterschieden – an „Wandel durch Annäherung“ erinnert.

Geht es derzeit nicht auch um die Frage des Kalten Krieges, ob ethische Prinzipien von einer Bundesregierung eingehalten werden müssen oder ob Konfrontation Reformen verhindert?

Niemand zwingt uns dazu, von Prinzipien abzurücken. Ich muss aber fragen, ob sie durchsetzbar sind. 2001 war absehbar, dass die Olympischen Spiele in einem Land mit Einparteienherrschaft stattfinden werden. Ebenso absehbar war die jetzige Debatte.

War die Vergabe der Spiele an China ein Fehler?

Ich habe gelernt, mich mit Realität zu beschäftigen. China hat die Spiele bekommen. Seither hatten die Gespräche zwischen Chinesen und Tibetern keinen Erfolg. Dann kamen Besuche des Dalai Lama hier und dort. Seither gibt es eine weltweite antichinesische Kampagne mit teils hysterischen Auswüchsen. Das wirkt auf China, als hätte man versucht, sie zu organisieren.

Wie kann die Bundesregierung zu einer Deeskalation beitragen?

Sie muss intern und still darauf hinwirken, dass sich das überhitzte Klima in unserer gedruckten öffentlichen Meinung legt. China und Tibet wird es auch nach den Olympischen Spielen geben.

Auch in der Bundesregierung war das Klima wegen der Chinapolitik überhitzt. Steinmeier warf Merkel „Schaufensterpolitik“ vor. Versucht die Kanzlerin, innenpolitisch Nutzen zu ziehen, und schadet sie den Menschenrechten in China?

Die Versuchung, Außenpolitik innenpolitisch zu benutzen, besteht in allen Regierungen. Spannungen zwischen Kanzleramt und Auswärtigem Amt hat es oft gegeben. Kein Kanzler und keine Kanzlerin darf Menschenrechtsgrundsätze aufgeben – wie man das am wirksamsten verficht, liegt an Einschätzungen und Fähigkeiten.

Ein Beispiel?

Ich denke zum Beispiel daran, wie ich die Dissidenten Lew Kopelew und Alexander Solschenizyn nach langen, stillen Bemühungen aus der Sowjetunion herausbekommen habe. Dann habe ich über die Ausreise des Dissidenten Andrei Sacharow verhandelt – bis mein sowjetischer Partner sagte: Seit US-Präsident Jimmy Carter den Fall zu seiner Angelegenheit gemacht hat, sei das Thema tabu. Carter erreichte nichts. Das heißt: Wenn ich Menschenrechte als ideologische Keule benutze, kann ich Menschen sogar schaden.

Der Empfang des Dalai Lama im Kanzleramt war falsch?

Ja, es war wohl falsch. Nichts gegen das Recht der Kanzlerin, zu empfangen, wen sie will. Aber das Wann und Wo ist eine andere Frage.

Als der Dalai Lama um einen Termin bei Steinmeier bat, sagte dessen Büro nicht zu oder ab, sondern versprach nur, die Bitte zu prüfen – die bessere Reaktion?

Es war den deutschen außenpolitischen Interessen entsprechend.

Seit heute ist der Dalai Lama erneut in Deutschland. Der Außenminister und der Bundespräsident werden heftig dafür kritisiert, weil sie ihn nicht empfangen.

Der Bundespräsident und der Außenminister haben sich so geäußert, dass der Dalai Lama nicht verletzt sein kann. Ich halte die Gründe ihrer Entscheidung für richtig.

Zahlreiche Experten behaupten, China beuge sich ohnehin keinem Druck von außen.

China ist nicht unanfällig für Druck von außen. Aber je stärker der öffentliche Druck wird, umso weniger folgt es ihm. Bleibt es still, kann China nachgiebiger reagieren.

Viele Chinesen, sogar Oppositionelle, interpretieren Kritik des Westens an der Menschenrechtslage als wirtschaftlichen Neid. Wie viel Missgunst steckt im Verhalten des Westens?

Ich glaube eher, dass Sorge mitschwingt. Wenn wir die Entwicklung Chinas in den letzten 15 Jahren betrachten – was erwartet uns in den nächsten 15? Die Stärke und das Gewicht Chinas könnten manchen Sorge bereiten.

Sind sie besorgt?

Nein. Für China gilt, was für alle anderen Staaten der Geschichte galt: Die Bäume wachsen nicht in den Himmel.

INTERVIEW: TIMO HOFFMANN