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Archiv-Artikel

Tibets Recht auf Selbstbestimmung

betr.: „Bitte nur am Katzentisch Platz nehmen!“

Anders als Christian Semler behauptet, gibt es von Seiten der tibetischen Exilregierung präzise räumliche und inhaltliche Vorstellungen von dem, was eine reale Autonomie in Tibet beinhalten solle. Es ist klar definiert, dass sie alle Gebiete des ehemaligen Tibets betrifft, Ü-Tsang, Kham und Amdo, modern formuliert: Die heutige Autonome Region plus die heutige chinesische Provinz Qinghai, Teile von Gansu, Teile von Sichuan und Teile von Yunnan.

Der Vorwurf der Unklarheit an die tibetische Exilregierung gerichtet fällt auf die eigenen Füße zurück. Der Dalai Lama als zentrale Repräsentationsfigur des modernen tibetischen Nationalismus spricht im Namen all der Tibeter in diesen Siedlungsgebieten. Das Interessante an den Aufständen im März und April 2008 ist ja, dass der Schwerpunkt der Aufstände nicht in Lhasa, sondern in den Gebieten außerhalb der eigentlichen sogenannten Autonomen Region lag. Dass die Tibeter sich in ihrer Gesamtheit als eine Einheit verstehen, als eine Nation, das ist im Wesentlichen Resultat der maoistischen totalitären Politik auf dem Hochland vom Ende der 1950er bis in die 70er Jahre.

Mao Zedong hat Tibet kolonial unterworfen, und bis heute existieren die kolonialen Strukturen fort. Deng Xiaoping hat die zwangsassimilatorische Politik Maos abgelöst durch eine forcierte Besiedlung des Hochlands mit Chinesen – 20 Millionen bis zum Jahr 2020, so das Ziel. Auch das gehört zum Bereich einer wirklichen Autonomie für Tibet, dass die Tibeter über den Zuzug auf das Hochland entscheiden oder mitentscheiden können. Die Inhalte einer Autonomie für Tibet betreffen religiöse, kulturelle, soziale, ökologische, ökonomische (zum Beispiel Bodenschätze) und politische Aspekte, kurzum ein klassischer Fall des Rechts auf Selbstbestimmung einer Nation.

Ebenfalls wird von der tibetischen Exilregierung klar definiert, dass Außenpolitik und Sicherheitspolitik Zuständigkeiten der Zentralregierung sind. Das ist in etwa ein Modell von „Ein Land, zwei Systeme“ und knüpft an das 17-Punkte-Abkommen von 1951 an, in dem Tibet garantiert wurde, dass das politische System in Tibet nicht angetastet werden würde.

Semler behauptet, eine Unterstützung der Tendenzen unter den Tibetern in Richtung nationale Unabhängigkeit sei eindeutig völkerrechtswidrig. Warum eigentlich? Völkerrechtswidrig ist die Politik der KP China seit 1951. Sie ist das eigentliche Problem. Eine langfristige friedliche Lösung des Tibet-Problems muss in einer Demokratisierung Chinas liegen. Das wäre auch der wichtigste Beitrag zur Lösung des Tibet-Problems. CHRISTIAN REIS, Frankfurt am Main