: „Freiheitsentzug zum Schutz des Kindes“
Nach Mord durch Bruder an 16-jähriger Morsal O. übt Jugendhilferechtsexperte Christian Bernzen Kritik an Behörden: Weil das Mädchen durch seine Familie gefährdet war, hätte der Kinder- und Jugendnotdienst es festhalten müssen
CHRISTIAN BERNZEN, 45, ist Rechtsanwalt in Hamburg und lehrt Jugendhilferecht an der Katholischen Hochschule Berlin.
taz: Herr Bernzen, die von ihrem Bruder ermordete Morsal O. war vier Tage vor der Tat von der Polizei zum Kinder- und Jugendnotdienst (KJND) gebracht worden, weil ein Familienangehöriger sie geschlagen hatte. Diese Schutzeinrichtung verließ sie aber am Tag vor ihrer Ermordung. Hätte der KJND sie daran hindern können?
Christian Bernzen: Ja. Das Mädchen wurde wegen einer Gefährdung für Leib und Leben in Obhut genommen, wie es der Paragraf 42 des Jugendhilfegesetzes vorsieht. In so einem Fall haben staatliche Stellen eine Garantenpflicht, das Kind zu schützen. Dafür ist es erforderlich, die Gefahr abzuschätzen, für die es hier deutliche Hinweise gab.
Laut Jugendamt gab es bereits einen Platz in einer Einrichtung außerhalb Hamburgs, wo Morsal in wenigen Tagen hinziehen sollte. Hätte der KJND sie bis dahin festhalten sollen?
Ja.
Gegen ihren Willen?
Es ist normal, das junge Menschen den Schutz, den sie benötigen, nicht unbedingt haben wollen. Nehmen Sie das Beispiel eines Dreijährigen, der über eine große Straße gehen will. Als Erwachsener nimmt man das Kind an die Hand, ob es das will oder nicht.
Hätten die KJND-Mitarbeiter die Tür zusperren sollen?
Im Notfall ja. Sie hätten auch zum Beispiel mit dem Mädchen wegfahren können.
Werden jene, die Morsal gehen ließen, juristisch belangt?
Das weiß ich nicht. Wichtig ist jetzt, zu klären, ob Hamburg hinreichende Möglichkeiten hat, junge Menschen auch gegen ihren Willen zu schützen, ob es die technischen Voraussetzungen und die nötige Personalausstattung gibt. Das müssen nicht Gitter sein. Zur Not muss es eine eins zu eins Betreuung geben.
Nun ist diese Situation von Gewalt in der Familie kein Einzelfall. Sie müssten viele Mädchen auf diese Art schützen.
Ja. Freiheitsentziehung darf es in der Jugendhilfe eigentlich nur zum Schutze des Kindes geben. Hamburg ist bisher einen anderen Weg gegangen und hat bisher mit dem geschlossenen Heim für Jungen in der Feuerbergstraße die Jugendhilfe benutzt, um Jugendstrafrecht durchzusetzen. Das ist aber nicht Aufgabe der Jugendhilfe. Wenn es darum geht, Jugendliche wegzusperren, stellt man für viele Millionen Euro eine Einrichtung hin. Wenn Jugendliche gefährdet sind, wird wahrscheinlich zu wenig getan.
Wenn man Jugendliche einsperrt, entstehen daraus pädagogische Probleme.
Die gibt es auch, wenn man seine Kinder gegen ihren Willen dazu antreibt, die Hausaufgaben zu machen.
Ich meine andere Probleme. Es gab bis 1980 das geschlossene Heim für gefährdete Mädchen in der Feuerbergstraße. Dort haben sich die Mädchen negativ beeinflusst.
Das Heim war grausam, weil es eine Dauerunterbringung war. Eine Inobhutnahme geschieht aber immer nur für einen kurzen, begrenzten Zeitraum, bis geklärt ist, wo das Kind aufgenommen wird.
Gibt es genug dauerhafte Plätze für Mädchen in Not?
Da muss man jeden Fall anders betrachten, für jedes Kind eine Einzelfalllösung finden. Für das eine ist die Pflegefamilie gut, für das andere eine betreute Wohnung in einer anderen Stadt.
INTERVIEW: KAIJA KUTTER