Gewalt als Krankheit

Im letzten Jahr gab es 88 nachgewiesene Fälle von Kindesmisshandlungen in Hamburg – das berichtet die zentrale Untersuchungsstelle am UKE. Die Klinik bietet anonyme Behandlungen an

VON DANIEL KUMMETZ

Ihre Namen sind Symbole geworden: Lea-Sophie, Jessica, Kevin – mit ihnen werden keine glücklich herumtollenden Kinder verbunden, sondern die Fälle von vernachlässigten oder misshandelten jungen Menschen. Wie viele solcher Kinder es in Hamburg gibt, versuchen Forscher am Universitätsklinikum Eppendorf (UKE) im Rahmen einer Studie herauszufinden. Ihr Ergebnis: Bei 172 Kindern gab es in den vergangenen zwölf Monaten einen Verdacht auf Misshandlung, Vernachlässigung oder sexuellen Missbrauch. Bei 88 bestätigte sich dieser, 33 Mal erwiesen sich die Vermutungen als haltlos, bei 51 Fällen konnten die UKE-Teams aus Kinderärzten und Gerichtsmedizinern die Ursache nicht eindeutig klären.

Für ihre Studie haben die Ärzte alle Verdachtsfälle dokumentiert, die im UKE-eigenen Kinder-Kompetenzzentrum (Kompt) in der Zeit vom März 2007 bis Februar 2008 untersucht wurden. Die Kinder, höchstens 15 Jahre alt, wurden nach Hinweisen von Jugendämtern, Polizei, Kinderärzten, Nachbarn und Familienangehörigen untersucht. Erste Details aus der Studie waren schon im Hamburger Wahlkampf bekannt geworden, ohne dass die Untersuchung abgeschlossen war.

„Das sind nicht alle Fälle, die wir hier erfassen, aber schon deutlich mehr als früher“, sagt Klaus Püschel, Direktor des Instituts für Rechtsmedizin am UKE. „Wir sehen mit den 172 Fällen sicher mehr als die Spitze des Eisberges.“ Doch den Forschern ging es nicht nur um eine Annäherung an die Dunkelziffer der Fälle von Kindesmisshandlung, sondern auch darum, nach Gemeinsamkeiten zu suchen, aus denen sich Risikofaktoren ableiten lassen und so eine bessere Vorbeugung ermöglichen. Ihr Befund: Die Tatverdächtigen seien im sozialen Nahfeld der Kinder zu suchen. Wenn eines betroffen ist, sind das oft auch die Geschwister. Körperliche Misshandlung oder Vernachlässigung kommt überwiegend in sozial schwachen Familien vor, seelische Gewalt oder sexueller Missbrauch kommt in allen Gesellschaftsteilen gleichmäßig vor. Wenn Gewalt einmal angewand wurde, dann ist sehr wahrscheinlich, dass das kein Einzelfall war.

Das Kompt ist als zentrale Anlaufstelle beim Verdacht auf Kindesmissbrauch konzipiert. Das Zentrum ist rund um die Uhr erreichbar, Kinderärzte und Rechtsmediziner untersuchen die Betroffenen zusammen. Auf Wunsch kann das anonym und vor Ort geschehen. „Wir sehen Gewalt als Krankheit und wollen helfen. Es geht uns darum, Vertrauen aufzubauen und nicht Menschen zu bestrafen.“

Die Medien räumen dem Thema inzwischen viel Platz ein. Doch mehr Fälle als früher gebe es nicht, glaubt Püschel, der sich seit 30 Jahren beruflich mit dem Thema befasst. „Ich habe nicht den Eindruck, dass die besonders schweren Fälle in den letzten drei Jahrzehnten zugenommen haben“, sagt Püschel. Er fordert eine verpflichtende Untersuchung von Kindern durch die Ärzte und die Einrichtung einer zentralen Meldestelle für alle Fälle von Kindesmisshandlung.

Dass solche Untersuchungen auch in Hamburg eingeführt werden, steht im Koalitionsvertrag von CDU und GAL. Doch einen genauen Zeitplan gibt es noch nicht: „Wir werden uns jetzt ganz genau angucken, wie das in Schleswig-Holstein organisiert wird“, sagt ein Sprecher der Sozialbehörde. Auch die Idee der zentralen Meldestelle werde weiter geprüft – mit offenem Ausgang.