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Archiv-Artikel

„Ich glaube den Eltern kein Wort“

Nach dem Mord an Morsal O. fordert Bülent Ciftlik, Migrationspolitischer Sprecher der Hamburger SPD-Fraktion: Sozialarbeiter, die die Kultur und Sprache von Migrantenfamilien kennen und sich nicht hinters Licht führen lassen

BÜLENT CIFTLIK, 36, ist Sprecher für Migration und Zuwanderung der SPD-Fraktion Hamburg und Kind türkischer Einwanderer.

taz: Herr Ciftlik, Hamburg erlebt eine Serie von Gewalt an Frauen durch Männer mit Migrationshintergrund. Hat die Stadt da ein Problem?

Bülent Ciftlik: Es ist generell ein Problem, dass sich in Ballungszentren kulturelle Mikrokosmen herausbilden, in die wenige Menschen von außen Einblick haben. Ich würde nicht von Parallelgesellschaft reden. Aber es gibt Familien, wie die von Morsal O., die sich abschotten. Denen muss man vermitteln, dass es keine Schande ist, wenn die heranwachsenden Tochter nicht tut, was die Eltern wollen.

Hat die Stadt falsch gehandelt? Ihr Genosse Thomas Böwer sagt, der Jugendnotdienst hätte die 16-Jährige nicht gehen lassen dürfen.

Wichtig wäre gewesen, eine richtige Einschätzung über die Gefahr für Leib und Leben zu haben. Ich glaube den Eltern von Morsal O. kein Wort. Wir brauchen Sozialarbeiter, die die Kultur und Sprache der Familie kennen und sich nicht hinters Licht führen lassen. Es passierte ja viel im Vorfeld und der Bruder wurde von Freunden aufgestachelt. Es hätte klar sein müssen: Es bedarf nicht mehr viel und einer in der Familie dreht durch.

Und die anderen Fälle?

Auch bei dem Mord im Karolinenviertel war die Eskalation vorhersehbar. Der Mann hatte keine Arbeit und hatte viel Zeit, sich in Blödsinn reinzusteigern. Er hatte bereits eine andere Frau schwer verletzt. Und er musste offenbar in seiner Männerwelt verheimlichen, dass seine Freundin ihn nicht mehr wollte. Es gab klare Signale, die braucht Schutz.

Was kann Hamburg tun?

Wir müssen Migranten zu Sozialarbeitern ausbilden. Und wir müssen Migrantenvereine animieren, dass sie Kurse zur Konfliktentschärfung anbieten und auf Familien zugehen.

Ist die Häufung Zufall?

Es gibt schon ein gesellschaftliches Problem. In Vierteln wie Billstedt oder Wilhelmsburg, wo jeder dritte männliche Migrant keinen Schulabschluss machte, ziehen viele junge Männer ihr Wertgefühl daraus, die Ehre der Familie zu verteidigen. Der Bruder von Morsal O. kam erst mit zehn Jahren nach Deutschland. Vorher ist er in Afghanistan in einem Gewaltstaat aufgewachsen, wo die Männer mit Gewehren das Sagen hatten. In dem Land musste man schnell Söhne heranziehen, die die Familie beschützen. Wenn so ein Hoffnungsträger der Familie in Deutschland in allen anderen Bereichen versagt, klammert er sich daran, die Familienehre zu verteidigen.

Was können Politiker mit Migrationshintergrund tun?

Wir müssen Position beziehen, sagen: Leute, öffnet Euch den hiesigen Werten von Gleichberechtigung und Respekt – auch und besonders in Konfliktsituationen. Hier gilt gleiches Recht für Mann und Frau, entweder, ihr akzeptiert das, oder ihr scheitert. Und wenn ihr scheitert, ist das nicht die Schuld der Gesellschaft, sondern eure. Es ist ein schmaler Grad, weil es nicht mit dem Ruf nach härteren Strafen getan ist. Wir müssen die Ursachen bekämpfen. Es ist letztlich ein Bildungsproblem. Wir müssen eine Schule haben, die jedem zu einem Abschluss und einer Perspektive verhilft. Wir müssen viel häufiger Gefährderansprachen machen. Es muss Frauen, die bedroht sind, sehr einfach gemacht werden, den Wohnort zu wechseln. INTERVIEW: KAIJA KUTTER