: Tiger ist der Master der Essenzen
Der Tag ist perfekt. Zum ersten Mal seit Langem ist das Wetter beim Karneval der Kulturen super. Nun ist der Tiger also in meinem Revier. Als ich hierhergezogen war, waren viele Jugendbanden auf der Straße. Vor acht Jahren hatte die B.Z. sogar einmal etwas von der gefährlichsten Straßenecke Berlins getitelt. Mittlerweile hat eine Mittelschichtifizierung stattgefunden. Die Bergmannstraße mit ihren lückenlos aneinandergereihten Cafés gilt als die „Rache vom Kollwitzplatz“. Hier wohnen Leute, die in den Medien arbeiten, und aufgestiegene Hausbesetzer.
„Kreuzberg ist die beste Stadt der Welt“, sagt Tiger und erklärt mir Straßencodes: Daumen und Finger formen eine 6, drei Finger sind abgespreizt. Das heißt 36. 61 ist komplizierter. Wilmersdorf, das Klischee eines todlangweiligen Bezirks. Murat und Tiger haben viele Termine heute. Zum Beispiel bei Radio Multikulti, da improvisiert Tiger über das Freiluftsolarium, das er heut’ hier betreiben würde. Er ist ganz begeistert. Verglichen mit anderen Großstädten, wirke Berlin ja oft menschenleer. Das Tolle am Karneval sei eben, dass die Straßen so voll sind. Dem RBB erzählt er später, dass der Eindruck der großen Vielfalt auf dem Karneval täusche. Eigentlich seien hier nur Türken. Die würden nur tun, als seien sie Brasilianer, weil sie früher als Türken nie in die Disco reingekommen seien. Der Schauspieler Oktay Özdemir sitzt neben ihm und lacht sich schlapp. Tiger stellt mich vor: „Das ist Detlef. Der schreibt für die taz, die türkische Ausländerzeitung.“
Angefangen hat es mit einem Clip auf YouTube. Mittlerweile ist Tiger, die Kreuzberger Antwort auf Ali G., überall. Tiger verkörpert das Geltungsbedürfnis von Minderheiten, das Extreme, das Kompromisslose. So überzeugend, dass es sogar schon Tiger-Imitate gibt
TEXT DETLEF KUHLBRODT FOTOS DETLEV SCHILKE
Der Tiger von Kreuzberg ist groß. Man kennt ihn auch in Hamburg und München. Auch wenn er selbst niemals da war. Das ist so wie bei Jean Claude van Damme, der war auch noch nie in Kreuzberg, aber jeder hier kennt seinen Namen.
Tiger aka Cemal Atakan ist sechsundzwanzig und sieht super aus, „süper“, wie man hier sagt. Jedenfalls: weiße Nike-Airmax, Jogginghose, Kapuzenpullover, Mütze. Die Turnschuhe zum Wegrennen vor den Kontrolleuren, die Jogginghose, weil sie weit ist und genug Raum gibt, um im Bedarfsfall mit den Füßen zu kämpfen, die Mütze, weil „Mit Mütze bist du unsichtbar“, und „Herr Polisai“ kann dich nicht finden. Seine Tage verbringt Tiger in Tigerland, Berlin-Kreuzberg. Der Gegend, die früher 36 hieß.
Wer ihn sieht, meint vielleicht, er stehe hier nur so herum und tue nichts. In Wirklichkeit ist er auf Arbeit. Kontrolliert die Gegend, guckt hierhin und dorthin. Tiger sieht alles; schaut er nach vorn, weiß er, was in seinem Rücken geschieht, schaut er auf den Boden, sieht er auch den Polizeihubschrauber, der über ihm kreist. Tiger ist der Manager der Straße. Gibt Mädchen- und Abziehtipps oder wie man zum guten Opfer wird – Abziehen ist ja Teamwork –, erklärt den Kreuzberg-Style, spricht über Knast und Hartz IV und wie man gucken oder besser nicht gucken sollte. Oft wird Tiger auch zum Schlichten gerufen, wenn’s Stress gibt. Er hat ein gutes Herz, aber man sollte ihn nicht reizen, denn Tiger ist hart und gut im Boxen.
Er kennt hier alle Leute und jeder kennt ihn. Macht Fußballwetten im Wettbüro, plaudert mit dem Friseur Yavuz am Kottbusser Tor, vermittelt Kunden und Waren, die KGPA (Konkret-guter-Preis-Ahmed) über seine vielen Cousins in allen Branchen besorgt. Er gibt Kredit als Chef der Tigerbank, die in einem kleinen Park am Erkelenzdamm steht und immer aufhat, vor allem aber erzählt der Tiger sehr komische Geschichten, die seit 2006 als Videoclips im Netz stehen und allwöchentlich, am Freitag meist, ergänzt werden. Manche der Episoden, die er mit seinem Freund Murat Ünal herstellt, haben auch mehrere Teile.
Die lustigsten erzählen von einer Parallelwelt im wahrsten Sinne des Wortes: Wo in reicheren Bezirken – Zehlendorf – die Polizei schnell kommt, wenn ein kleines Kätzchen grad Schluckauf hat, ruft man in Kreuzberg, am U-Bahnhof Schlesisches Tor, ganz laut OUUUUUUUU, wenn Not am Mann ist. Orhan-Utang, verrückter Kerl, aber ganz in Ordnung, ein guter Freund (wie alle Kreuzberger) von Tiger, kommt dann schnell, um zu helfen. In München wählt man die Miss Germany; in Kreuzberg die Miss Pitbull. Was in „Zehlendorfsteglitzwilmersdorf“ das große Scheitern ist – Hartz IV oder auch Knast – ist in Kreuzberg der Jackpot, und was für New York der Broadway ist, ist für Kreuzberg die Oranienstraße.
Seltsame, oft auch wahnsinnige Gestalten bevölkern Tigers Universum: Elektro-Erhan, der sich bei der Installation einer Heizung im Außenklo schwer verletzte, Feuerwehr Ali, der sich ein Feuerwehrauto kaufte, um damit selbst gelegte Brände zu löschen, Terror Mehmet, der jeden Tag Feuerwerkskörper in die Luft schoss, weil sein Leben ein einziges Silvester sein sollte.
Die schönste Geschichte, die Tiger in unterschiedlichen Versionen erzählt, ist die von U-Bahn-Umut und wie der Aufpasser bei Drogengeschäften am U-Bahnhof Kottbusser Tor ums Leben kam. Eine U-Bahn überrollte ihn. „Und dann war von U-Bahn-Umut nur noch sein Name übrig. Körper weg. Traurige Geschichte, aber is Kreuzberg, da gibt’s auch traurige Geschichten, weissu.“
U-Bahn-Umut ist der große, tragische Held im Universum des Tigers. In einem der komischsten Clips erzählt er die Geschichte auch gestenreich in einem wunderbar redundanten Englisch. In vielen Clips trägt er einen Kapuzenpullover mit der Aufschrift „U-Bahn-Umut-RIP“ oder „USA = Umut sucht Arbeit“.
„Leben in Kreuzberg is wie Playstation, weissu“, sagt Tiger, und das Kreuzberg, von dem er berichtet, ist ein anderes als das Kreuzberg, das in den späten Siebzigern und Achtzigern als Besetzer- und Autonomenhochburg bekannt wurde. Rückblickend wirkt dies Kreuzberg ziemlich deutsch. Migranten kamen, wenn überhaupt, dann nur am Rande vor.
Der Tiger ist ein Erfolg; einzelne Episoden wurden teils 400.000-mal angeklickt. Längst gibt es den Tiger auch jede Woche auf Radio Multikulti. Vor Kurzem gab es sogar eine ganze Tiger-Nacht, in der Tiger unter anderem den Kreuzberger Bezirksbürgermeister Franz Schulz interviewte. Auch eine Internetfirma unterstützt die beiden.
Im April hatte der Tiger im Moabiter Theater Engelbrot seine Bühnenpremiere. Das Publikum war schön gemischt und das ehemalige Hansa-Theater zum ersten Mal ausverkauft. Der Anteil der Besucher mit migrantischem Hintergrund war viel größer als etwa im HAU, in den Sophiensælen oder in der Volksbühne. Anders als in den sozusagen linksrebellischen Theatern darf man im Engelbrot auch noch rauchen. Die meisten waren sehr schick angezogen. Gut auszusehen ist wichtig, wie der Tiger zu betonen nicht müde wird.
Der Tiger präsentierte ein buntes Potpourri, alles war prima. Die Videos sind ein bisschen tougher; auf der langsameren Bühne kommen die poetischen Elemente der Tiger-Sprache besser zum Tragen. Wenn er über Frauen mit Abitur zum Beispiel sagt, sie hätten zu viele Bücher gelesen, deshalb seien zu viele Buchstaben im Kopf, die erst mal ausgeschüttet werden müssen. Deshalb quatschen sie immer so viel, und nach einer halben Stunde Quatschen müssen sie dann wieder atmen oder aufs Klo.
Reich werden die beiden nicht, aber leben können sie inzwischen von der Tigergeschichte. Als Nächstes ist ein Tiger-Spielfilm geplant. Das Drehbuch ist schon fertig.
Ich bin von Tiger begeistert. Vier Tage hatte ich mich nur mit ihm beschäftigt. Die 72 Videos angeguckt, die Radiosendungen gehört, mir Notizen gemacht. Ich hatte mir Picaldi-Jeans gekauft und begann, in Tigersprache zu träumen. Dann treffe ich Murat und den Tiger im Istoria am Kollwitzplatz. Als er mein Aufnahmegerät sieht, fragt der Tiger, ob ich es von KGPA bekommen hätte. Von Nahem sieht der Tiger noch besser aus als in den Internet-Filmen oder im Theater. Ich bin ein bisschen nervös. Es ist eine große Geschichte-michte, wie Tiger sagen würde, der als Privatperson noch eine Weile im Hintergrund bleiben möchte.
taz.mag: Wie hat die Tigergeschichte begonnen?
Murat: Zuerst wollten wir nur etwas drehen, um TV-Sendern oder Produktionsfirmen eine Figur anzubieten, um die herum wir etwas aufbauen wollten. Das hat aber keinen interessiert. Weil zu der Zeit gerade YouTube aufkam, stellten wir die Clips dann da rein, um zu sehen, wie Leute darauf reagieren. Dann gab es im Tagesspiegel den ersten Artikel. Radio Multikulti rief bei uns an und hat gefragt, ob wir so was nicht auch fürs Radio entwickeln könnten. Und so ging’s dann weiter: Ein Freund von uns hatte dann bei einer Kurzfilmnacht im Engelbrot eine Tiger-Folge gezeigt. Das kam so gut an, dass sie uns gefragt haben, ob wir nicht Lust hätten, das auch für die Bühne zu machen.
Habt ihr dann auch bei der Fußball-WM gedreht?
Murat: Ja. Mit Tiger im Deutschlandtrikot. Aber der Ton war so miserabel, dass wir es dann doch nicht ins Netz gestellt hatten.
Wie arbeitet ihr?
Murat: Es gibt einen Basistext, um den herum der Tiger improvisiert. Es gibt Folgen, die sind von Anfang bis Ende total komplett improvisiert. U-Bahn-Umut ist so eine Folge. Wir standen am U-Bahnhof. Ich hatte die Kamera angemacht und gesagt: „Erzähl mal was“, und er hat dann losgelegt. Elektro-Erhan ist auch im Moment entstanden. Und manchmal ist das Leben auch viel krasser als die erfundenen Geschichten.
Es gibt Themen, die auf der Hand liegen: Tyson-Schnitt, Kickerhosen, Nike-Airmax. Das sind so typische Merkmale von Kreuzberger Türken oder Arabern. Das muss thematisiert werden. So ein Typ wie Tiger muss das kennen. Geplant ist auch viel mehr Interaktion mit anderen Leuten. Bis jetzt hatten wir nie genug Zeit, uns darum zu kümmern. Am Anfang hat er nur so getan, als wenn er jemanden grüßen würde, inzwischen kennen ihn so viele, dass er dauernd gegrüßt wird. In den letzten Folgen ist das Grüßen echt.
Wir wollen es so halten, dass es fast authentisch rüberkommt. Glaubwürdigkeit ist für uns das Wichtige; gleichzeitig muss es aber auch klar sein, dass es Humor ist. Manchmal fragen wir uns auch, ob das nun nicht zu krass ist. Tiger hat ja auch so eine latent gewaltbereite Vergangenheit. Die wird nie erklärt. Er kennt die krummen Jungs, auch wenn er sagt, er hat da nichts mit zu tun. Man weiß, er kennt sich damit aus. Der Tiger ist vielleicht nicht politisch korrekt, aber das ist eben der Character.
Politisch korrekt?
Murat: Wir wurden zum Beispiel gefragt von Sat.1, ob wir bei so einer Sache gegen Gewalt in Bussen und U-Bahnen und so mitmachen wollten. Wir haben dann gesagt: Finden wir super. Aber das Problem ist: Die Figur Tiger wäre da nicht wirklich glaubwürdig. Wenn man ein paar Folgen kennt – Touristentennis zum Beispiel – sieht man, dass das nicht geht. Bei so einer Antigewaltgeschichte würde der Tiger wie weichgespült wirken. Der Tiger ist ja schon so ein Kreuzberger Molukke oder Kanake, der ab und zu mal sauer wird, sag ich mal. Wir als Macher sehen das natürlich anders. Aber wir können Tiger bei so was nicht mitmachen lassen. Das wäre so, als wenn er plötzlich mit so einem Coca-Cola-Emblem herumlaufen würde. Man muss aufpassen, dass man eine solche Figur nicht in die falsche Richtung schickt.
RTL hatte uns auch gefragt, ob wir nicht mal bei Udo Walz reinschneien wollen. Ging auch nicht. Wieso soll Tiger bei Udo Walz sein? Was soll der da machen? Warum soll er mit dem reden? Das passt ja nicht wirklich. Haben wir also auch abgelehnt.
Du kommst ja, anders als Tiger, eher aus geordneten Verhältnissen …
Murat: Stimmt. Aber dieses Türkische verbindet. Egal, wo du aufwächst als Türke, du bist immer auch wie die Türken in Kreuzberg. Wir sind Gastarbeiterkinder, und das verbindet uns alle. Wir gehören zu dieser Generation, die hier groß geworden ist. Der eine studiert vielleicht, der andere hat nur einen Hauptschulabschluss, aber vom Temperament, vom Blut her ist das sehr ähnlich. Ich hab vielleicht nur gelernt, mich ein bisschen besser zu artikulieren. Aber die Jungs auf der Straße sind auch nicht dumm. Die denken vielleicht genauso wie ich, aber können das nur nicht so gut rüberbringen … Ich sag deshalb auch immer: In jedem von uns steckt ein Tiger.
Deshalb versteht das auch jeder Türke außerhalb von Berlin. Wir bekommen ja viel Post aus anderen Städten. Die Figur ist zwar in Kreuzberg angesiedelt, aber jeder kennt so eine Figur in seinem Umfeld. In jeder Stadt, wo es Migranten gibt, gibt es eine Art Tiger. Es gibt auch Jugendliche, die sich genauso anziehen und dann zum Kottbusser Tor gehen, um eine Tiger-Folge nachzuspielen. Es gibt auch einen Tiger aus Offenbach und einen Tiger aus Schalke. Einmal ist auch eine Klasse aus Westdeutschland extra nach Kreuzberg gekommen, um zu sehen: Wo stand KGPA? Wo ist U-Bahn-Umut umgekommen? Das ist so geil und macht uns stolz. Das inspiriert also Jugendliche. Und das hat mich an mich erinnert, wenn ich früher Rocky nachgemacht habe.
Noch mal: Wie entsteht so eine Folge?
Murat: Meist kommen die Ideen vom Tiger. Dann schreibt er das auf, und ich checke das dann, bevor wir drehen. Und wenn wir etwas Improvisiertes machen, entsteht die Entscheidung oft erst beim Schnitt; also dass man sagt, das nehmen wir oder das passt nicht zum Character oder zur Dramaturgie der bisherigen Folgen. Ich hab also mehr den Gesamtüberblick, und Tiger gräbt einfach. Wenn man ihn laufen lässt, spuckt er die ganze Zeit diese Ideen aus, die in seinem Kopf sind. Das fließt und fließt und fließt. Und das in einen groben Rahmen zu bringen und aufzupassen, dass sich Sachen nicht zu sehr widersprechen, ist dann meine Aufgabe.
Tiger: Das ist so ein Pingpong. Manchmal vermischt es sich, und dann sind wir beide wie so eine griechische Figur: ein Körper, zwei Köpfe, weißt du?!
Murat: Wir wollten etwas machen, was uns gefällt, was uns Spaß macht, was wir sehen wollen – wir haben es für uns gemacht in erster Linie. Wir haben natürlich gehofft: Wenn’s uns gefällt, gefällt es auch jemand anders. Wenn’s uns gefällt, ist die erste kritische Hürde geschafft. Wichtig ist, dass der Spaß daran erhalten bleibt und man nicht immer daran denkt, Kohle zu verdienen. Das ist uns bisher nie so richtig wichtig gewesen. Das muss vom Herzen kommen. Die Liebe dazu ist unser Impuls gewesen, und das ist auch das, was uns am Leben erhält.
Und die Sprache?
Tiger: In Kreuzberg, die sprechen alle Deutsch. Ich weiß nicht, was du da sprichst.
Murat: Das ist ja immer das m. Wenn du sagst „Kino-mino“, meinst du: Kino und so. Also: Praktikum-maktikum, anders-manders, Hipopie-mipopie usw. So haben die vor allem in der ersten Generation gesprochen. Weil ihnen das Wort gefehlt hat, haben sie die Verdopplung von demselben Wort mit dem anderen Buchstaben gemacht. Eigentlich wollten sie noch mehr sagen, aber ihnen hat ein Wort gefehlt. Das war am Aussterben. Seitdem das Tiger aber macht, ist das wieder en vogue.
Gibt es bestimmte Themen, die ihr meidet?
Murat: Religion nehmen wir nicht rein. Und keine Politik. Oder auch Drogen. Es gibt ja viel Drogenkonsum bei jungen Türken. Aber wir thematisieren das nicht. Es ist ein heikles Thema. Sobald du bestimmte Themen ansprichst, spaltest du sehr, polarisierst sehr. Wir wollen schon positive Werte vermitteln, aber mehr durch die Hintertür. Beim Beruf „Abzieha“ ist nur ein bisschen die Politik mit drin: die Oberabzieher, die in New York sitzen, die ziehen ja wirklich die Welt ab.
Wie unterscheiden sich die unterschiedlichen Ebenen, auf denen Ihr arbeitet?
Murat: Bei ihm ist es so: Egal was für einen Satz ich bei ihm eingebe, er kommt in Tiger-Sprache bei ihm heraus. Tiger ist der Master der Essenzen. Die Welt ist ziemlich klar. Das ist auch typisch bei den Orientalen. Es gibt gut und böse. Es gibt superfreundlich und supersauer. Dieses Überschwängliche in jede Richtung und dass es keine Zwischentöne gibt, das bringt Tiger sehr gut rüber. Er ist ja Heißblüter. Die Abendländische Kultur dagegen ist geprägt vom Moderaten. Da gibt es viele Zwischen- und Grautöne. Der Orient ist geprägt von starken Männern, von der Politik des starken Mannes, der andere dann mehr oder weniger unterjocht. In Europa redet man und findet Zwischenlösungen. Tiger selber hat gar kein Gefühl dafür gehabt, wie toll das ist, was er so sagt. Er sagt das immer so vor sich hin. Und ich muss hinter ihm herlaufen und die Goldbarren auffangen, die er so ausspuckt.
Tiger: Tiger würde es ohne Murat so gar nicht geben. Er vergisst ja immer gleich das, was er gesagt hat. Deshalb sind wir eins: Ich bin Mund, spreche, und er ist mein Gedächtnis. Ist auch nicht Schule-mule; bei Tiger musst du aufpassen. Da kannst du was lernen. Zum Beispiel: Die harten Typen, die mit Tyson-Schnitt rumlaufen, die sind oft lammfromm, wenn sie von ihrer zierlichen, kleinen Freundin angemacht werden. Dann sind die wie abgebissene Pitbulls. Dann ist die Frau die Krasse.
Wie geht’s weiter im Theater?
Murat: Die drängeln schon, ob wir nicht jede Woche auftreten wollen. Wir wollen uns Zeit lassen. Wir wollen die Figur nicht verheizen. Inzwischen arbeiten wir ja auch kostendeckend. Das ist ein unglaubliches Privileg, dass man davon leben kann. Und das Geld darf nicht im Vordergrund stehen.
Tiger: Vieles ist vergänglich, weißt du. Du kannst viel Geld haben. Du gibst es aus. Dann bist du arm. Aber Gefühle sind immer gleich. Wenn du ein schönes Gefühl in dir trägst – dies Gefühl, wenn du zurückblickst, entsteht dann wieder. Und es ist genauso schön wie vorher. Gefühle bleiben gleich, und das ist eigentlich das Leben: dass man versucht, die Gefühle aufzubewahren, dass man am Ende des Lebens alles noch einmal genießen kann.
Bei der Show im Theater hatte sich ja ein Langhaariger angegriffen gefühlt und einen Zwischenruf gemacht …
Tiger: Und ich hab dann gesagt: Gumma – das ist meine Show, und wenn du was zu erzählen hast, gehst du woanders hin und machst deine eigene Show. Aber wunder dich nicht, wenn keiner nicht kommt, weil du hier nicht aufpasst. Der hat mir dann eine E-Mail geschrieben und ist jetzt Tiger-Freund.
Wie dreht ihr?
Murat: Wir müssen immer relativ früh drehen. Je mehr Leute auf der Straße sind, desto öfter wird der Tiger ja angesprochen. Neulich, als wir am Mariannenplatz gedreht haben, hat auch plötzlich einer das Fenster aufgemacht und schreit so: OUUUUUUUUU! Also so, wie man schreien muss, damit Orhan-Utang kommt und einem hilft. Wir müssen also schnell hin, schnell drehen, schnell wieder weg. An einem Tag drehen wir so zwei bis fünf Folgen. Einen Tag brauchen wir fürs Schneiden und einen Tag zum Schreiben. Eine Folge stellen wir pro Woche ins Netz und passen den Inhalt dann noch fürs Radio an. Es gibt aber auch Folgen, die es nur im Radio gibt, und welche, die es nur als Video gibt. Und zwischendurch machen wir manchmal auch Pause, um ein Musikvideo zu drehen.
Ich war erstaunt, dass es einen Text über euch auf muslimische-stimmen.de gab. Comedy und Religion kommen einem doch oft wie zwei unterschiedliche Planeten vor …
Murat: Ja. Das stimmt schon, dass man mit dem Islam etwas Strenges und Konservatives verbindet, wo Lachen schon fast wie eine Gotteslästerung ist. Ich selber bin ja Moslem und Türke und möchte diesem schlechten Image – dass Moslems nie lachen und ständig vom Dschihad reden – etwas entgegensetzen und zeigen, dass Moslems ganz normale Menschen sind, die auch gern lachen. Die Türken lieben ja Süßes und Lustiges und haben einen sehr schönen Humor. Wenn Migranten in dem Humorbereich tätig waren, waren es oft sehr weltliche, die wenig mit den „religiösen Wurzeln“ zu tun hatten. Religion ist aber ein heikles Thema, weil es so unglaublich polarisiert. Das wird sich vielleicht noch ändern. Gerade im Islam muss noch so viel Aufklärungsarbeit gemacht werden, weil es so ein schlechtes Image gibt. Das ist nicht unsere Aufgabe mit Tiger. Aber es ist wichtig, dass da etwas passiert.
Ihr plant auch einen Spielfilm mit Tiger?
Murat: Das Drehbuch ist schon da. Kreuzberg muss ein Character sein in diesem Film. Das ganze Feeling muss da rein.
Der Mann, der Tiger spielt, sitzt hier zwar auch, aber soll nicht als Privatperson auftauchen. Warum?
Murat: Wenn die Privatperson auftreten würde, ginge die Magie verloren. Je weniger du über die Privatperson weißt, desto mehr bist du in der Figur drin. Das wollen wir möglichst lange aufrechterhalten. Sacha Baron Cohen, der den Ali G gespielt hat, wollte auch ganz lange als Person nicht auftreten, damit die Figur, die er spielt, nicht an Glaubwürdigkeit verliert. Es geht auch um den Schutz der Privatperson: Wenn Leute Tiger verarschen, verarschen sie ja die Kunstfigur und nicht den, der sie spielt.
Wie kam es zu dem Namen?
Murat: 2001 hatten wir uns überlegt, was über türkische Jugendliche zu machen. Ich hatte also die Kamera angemacht und gefragt: „Wer bist du?“ Da hat er dann gesagt: „Ich bin Tiger, Tiger, Tiger – Cemal Atakan.“ Und das war gut. Es ist ja wichtig, dass er einen Spitznamen hat. Das ist ja das Kennzeichen der Typen, dass die immer so einen Spitznamen haben, der etwas Respekt Einflößendes signalisiert. Das ist so ein typisches Migrantending. Weil du diesen Minderwertigkeitskomplex hast, dass du so ein einfaches Gastarbeiterkind bist, muss der Name mehr symbolisieren, als wie du von der deutschen Gesellschaft vielleicht gesehen wirst. Also gibst du dir einen neuen Namen, der darstellt, wie du dich selber siehst. Weil du Angehöriger einer Minderheit bist, hast du natürlich ein viel größeres Geltungsbedürfnis. Und heißt dann eben Tiger, Body-Burak, Terror-Mehmet oder so. Und es gibt ja tatsächlich viele Leute, die ihren erfundenen Künstlernamen auch leben. Die reden dann nur noch so.
Die Tage gehen so ins Land. Oft denke ich an Tiger. Wenn jemand hupt zum Beispiel. „Hupe ist voll wichtig in Kreuzberg“, hatte Tiger gesagt, „weil deine Hand ist deine Zunge und deine Hupe ist dein Mund.“ Der Tiger tritt bei Sat.1 im Frühstücksfernsehen auf. Ein paar Tage später ist er beim RBB.
Als ich einem Freund, der gerade über die Situation an den Universitäten recherchierte, von Tiger erzählte, erwähnt er eine Studie, wonach die Hälfte der türkischstämmigen Studenten davon träumt, später in der Türkei zu leben. Als ich, L., dem 14-jährigen Sohn eines Freundes, das Touristentennis-Tiger-Video zeige, weiß er schon, bevor wir den Clip angucken, worum es geht: Touristenrumschubsen, was für den Betroffenen nicht so schön ist und in unterschiedlichen Formaten unterschiedlich abgehandelt wird: in dem Episodenfilm „Erster Mai“, in dem auch der Schauspieler und Tiger-Freund Oktay Özdemir mitwirkt, begegnen die Helden, zwei Jugendliche aus Westdeutschland, im Hausflur einer türkischen Jugendgang. Die erste Frage des Anführers der Gang: „Woher kommst du?“ Nicht aus Kreuzberg zu sein gibt Minuspunkte, die es rechtfertigen, die beiden anzugreifen. Nicht aus Kreuzberg zu sein war auch schon in der Hochzeit der Kreuzberger Hausbesetzungen ein Minuspunkt, wobei damals schon als Kreuzberger galt, wer erst ein paar Wochen in einem besetzten Haus wohnte.
In den fast dreißig Jahren, die seitdem vergangen sind, hat sich viel verändert. Auch die Sprache. Kreuzberger Hausbesetzer versuchten zu berlinern. Das Berlinerische galt als Straßenslang und sollte eine gewisse Verbundenheit mit der Region demonstrieren. Berlinern tun mittlerweile nur noch wenige. Die Sprache der Straße ist von Migranten geprägt; ein raues Berlinerisch mit türkischen Einsprengseln (Türkismen), das auch oft an den Gymnasien gesprochen wird.
„Ich schwöre!“
„Du Opfer!“
„Ich ficke deine Mutter!“
Das Regionale ist wichtig.
Ich dachte an diesen Abend vor einem Jahr, als mich ein junger Migrant verprügeln wollte. Irgendwie war ich schockiert gewesen, weil ich seit fünfzehn Jahren in einer von Migranten geprägten Gegend zu Hause bin. Nachdem ich darauf hingewiesen hatte, dass wir doch beide Kreuzberger seien, und ihm eine Zigarette angeboten hatte, hatte er von mir abgelassen.
Abends lese ich im Tiger-Blog. Der Blog-Tiger schreibt voll Begeisterung über meinen Exschalker Lieblingsspieler Hamit Altintop. Im Blog wirkt er sanfter; erklärt als freundlicher Mittler zwischen den Kulturen den nichttürkischen Lesern, was „Guten Tag“ auf Türkisch heißt und empfiehlt allen Kreuzbergtouristen einen Besuch des Kreuzberg Museums. Nachdem ich einen ersten Artikel über Tiger auf der Berlin-Kultur-Seite der taz veröffentlicht habe, schickt Tiger eine SMS: „Artikel ist sehr schön. Tiger hat nicht verstanden, ich habs ihm bei vier Döner erklärt. :) auch die Radiomultikultileute haben es gelesen-melesen.“
Die Jungs sind richtig gut! Seitdem ich auch selber ab und zu öffentlich auftrete, hab ich das Gefühl, das besser als zuvor einschätzen zu können. Auch dass die Utopie einer Figur wie Tiger Kommunikation ist, dass die Videoclips dialogisch sind, dass Tiger eigentlich ein Medium ist; ein Bote zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen, denke ich beim Radfahren im schönsten Frühling. Und plötzlich, am frühen Nachmittag in der Admiralstraße, sehe ich Murat und den Tiger, wie sie grad neue Tigerfolgen drehen. Wir begrüßen uns, und ich bin stolz darauf, die beiden zu kennen. Später kaufe ich mir eine Playstation.
DETLEF KUHLBRODT, Jahrgang 1961, ist taz-Autor. Zuletzt erschien von ihm „Morgens leicht, später laut. Singles“ bei Suhrkamp. Der Fotograf DETLEV SCHILKE, Jahrgang 1956, macht am liebsten Bilder von Menschen in ihrem Umfeld Wer ihn nicht auf der Straße findet, kann TIGER am 21. Juni im Engelbrot- Theater sehen