: Ja wo singen sie denn?
Sangesrausch pur verspricht das erste bundesweite Treffen des „Deutschen Chorverbands“, das am Donnerstag in Bremen begonnen hat: 200 Konzerte in vier Tagen. Aber nicht überall finden sich auch tatsächlich gut geschmierte Kehlen. Ein Nachmittag auf der Suche
VON TERESA HAVLICEK
Er blättert vor, er blättert zurück. „Ich find’ hier gar nix!“ Frustriert klappt Merlin Voßwinkel das über 100 Seiten starke Programmheft zu und steckt es in die Tasche. Mit seiner Freundin Theresa Hargesheimer trabt er von der Stephanikirche entlang der Weser, über die Schlachte in die City – dabei immer die Ohren gespitzt! Die beiden 19-Jährigen sind auf der Suche nach Chorgesang. 7.500 SängerInnen sind zum ersten bundesweiten Treffen des „Deutschen Chorverbands“ in Bremen zu Gast. 200 Konzerte an vier Tagen sind versprochen – Sangesrausch pur.
Doch Theresa und Merlin suchen am Eröffnungstag vergeblich. Die beiden singen selbst beim Chor „Northern Spirit“. Ihr eigenes Konzert haben sie bereits hinter sich: Der Wettbewerbsauftritt dauert 20 Minuten, Beginn 17 Uhr in der Stephanikirche, davor zwei Stunden Einsingen. Dann: raus aus der schwarz-weißen Auftrittskluft, rein in Jeans, T-Shirts und Turnschuhe. Und ab in die Stadt. Angekündigt war dort die feierliche Eröffnung des Festivals auf der Marktplatzbühne mit Bremens Ex-Bürgermeister und amtierendem Chorverbands-Präsidenten Henning Scherf. Im Anschluss daran Chorgesang in der ganzen Innenstadt, bis in den Abend hinein.
Scherf ragt am späten Nachmittag nirgends heraus, dabei ist er doch so lang. Stadtbummler, Biertrinker und Bratwurstesser beim besinnlichen Beisammensein, einiges tummelt sich im Zentrum. Nur gesungen wird nicht.
„Wir nehmen das richtig ernst“, sagt Chorleiter Gordon Hamilton, 55 Stunden in drei Wochen haben sich „Northern Spirit“ auf den Wettbewerb vorbereitet. Nach und nach trudeln die 22 Mädchen und Jungen an der Stephanikirche zum Einsingen ein. Zwischen 15 und 24 Jahren sind sie alt, Hamilton ist mit 25 der Älteste. Er begrüßt seine SängerInnen mit Umarmung und hängt ihnen ihre Teilnehmerausweise um den Hals. „Das ist ja wie beim Christival“, kichert eines der Mädchen.
„Wo-ho-ho-wü-hü-hü-wa-ha-ha-ha“: Über mehrere Oktaven gehen die Stimmübungen beim Einsingen. Hamilton zieht die Jugendlichen im Halbkreis um sich zusammen. „Wir sind hier, wir wollen gewinnen und wir wollen einen sauberen Klang!“, beschwört er. Ein letztes Mal geht er alle Lieder durch: „Radi Riddarrin“, ein isländisches Stück, „Ngana“ aus Australien und die Volkslieder „Grüß Gott, du schöner Maien“ und „Wir reisen ins Sommerland“. Der Klang“, sagt Hamilton, „wird wie eine schöne Wolke sein“. Dann geht es auf die Bühne.
Quietschende Straßenbahnbremsen, dann lautes Klingeln. Ein angeheitertes Grüppchen blockiert die Schienen. Theresa und Merlin sehen sich auf dem Marktplatz um. Ein älteres Paar spricht sie auf Englisch an und will verzweifelt wissen, wann die Musik auf der Bühne denn starte. Die beiden können ihnen nicht helfen und schicken sie zur Information im „Chorfest“-Büro. „Das bringt doch nichts“, entscheidet Theresa irgendwann entnervt. „Ich ess’ jetzt erst mal Pommes.“ Seit gut drei Stunden ist sie jetzt schon unterwegs.
Als sich Theresa mit ihren Fritten auf eine Bierbank am Marktplatz setzt, beugt sich ihr sichtlich beschwingter Nachbar herüber. „Wo kommen Sie denn her?“, fragt er. „Aus Bremen.“ Enttäuschung macht sich am Biertisch breit: „Wen man auch fragt, alle kommen aus Bremen.“ Theresa rollt die Augen und widmet sich ihren Pommes. Endlich essen! Entspannen!
Vor zwei Stunden war es noch darum gegangen, die Spannung aufzubauen. Sie positiv zu kanalisieren. Nervöses Händekneten, leises Summen, ein letztes Mal den Takt auf den Beinen klopfen. Dann ging es für „Northern Spirit“ auf die Bühne. Ohne Noten mussten sich die SängerInnen ganz und gar auf Hamilton konzentrieren, auf den Dirigenten. Viel Konkurrenz war im Publikum, erkennbar an den roten Bändchen um den Hals. Raunen im Kirchenschiff: „Das Lied machen wir doch auch“. Hamilton hat die Stücke aufwändig arrangiert, achtstimmig, mit Klatschen und Stampfen als Rhythmus-Begleitung. „Die waren aber stark“ hatte ein Mann mittleren Alters beim Applaus geschwäbelt.
„Schade, dass wir so feindselig beäugt wurden“, sagt Merlin. Reichlich Bier fließt, Frauen lachen kreischend, schnauzbärtige Männer mit roten Köpfen grinsen breit. Theresa und Merlin sitzen einfach da. Eine Insel im Gewühl. Natürlich wollen auch „Northern Spirit“ den Wettbewerb gewinnen. „Ich habe sogar meinen Italienurlaub verschoben, um dabei zu sein“, sagt Merlin. Die Abi-Prüfungen sind gerade vorbei. „Es wäre aber schon schön, wenn man sich untereinander zusammenschließt“, sagt Theresa zwischen zwei Bissen. Vergangenes Jahr hätten sie auf einem Festival in Spanien einen Chor aus Island kennengelernt. „Die waren echt toll. Wir haben uns richtig angefreundet und Lieder ausgetauscht“, erzählt sie und kratzt den Ketchup mit der letzten Pommes aus der Schale.
Die beiden ziehen weiter. Vom Marktplatz, über den Liebfrauenkirchhof durch die Lloydpassage. Immer auf der Suche nach Gesang. Über eine Stunde sind sie in der Innenstadt unterwegs, dann geben sie auf. „Das ist ja wirklich ärgerlich“, sagt Theresa. „Wer weiß“ – Merlin zieht das Programmheft aus der Tasche, klopft drauf „Vielleicht ist morgen ja mehr los.“