Dialog mit einem Torso

„Zaïde/Adama“ ist eine Doppel-Oper: Mozarts Torso hat die israelische Komponistin Chaya Czernowin nicht vervollständigt, sondern mit ihrer eigenen Klangsprache kontrastiert. Und ergänzt. Die deutsche Erstaufführung in Bremen erinnert daran, wie eminent politisch Musiktheater sein kann

Ihre Silben-Duette kann man, merkten verschnupfte Kritiker an, als unverbrämten Kopulationsgesang hören

VON BENNO SCHIRRMEISTER

Es geht um verbotene Liebe, um Ehrenmord, den Israel-Palästina-Konflikt und um Parallelgesellschaften. Aber der erste Schock, den die Opern-Produktion Zaïde/Adama setzt, ist ein rein musikalischer. Das Bremer Premieren-Anrechts-Publikum scheint auf die Rekonstruktion einer Mozart-Oper eingestellt – Applaus: Der Kapellmeister eilt ans Pult. Und dann beginnt der Abend – mit Stille. Drei, vier Personen stehen auf der erhellten Bühne, ein spartanisches Café-Bar-Intérieur. Jemand nimmt am Tresen Platz, der Keeper poliert ein Glas – schweigend. Dann geht, im Bühnenhintergrund, mit einem Ruck, ein roter Samtvorhang auf. Er gibt den Blick frei: auf ein weiteres Orchester. Und das beginnt zu spielen.

Aber es spielt keine Mozart-Ouvertüre. Geräuschmusik, mit dem Holz des Bogens auf Saiten getrommelte Rhythmik, ins Blech geatmete Tonlosigkeit: „Zaïde/Adama“ ist eine Doppeloper. Die israelische Komponistin Chaya Czernowin hat den, kurz vor der „Entführung aus dem Serail“ entstandenen, von Mozart selbst verworfenen Torso mit ihrer eigenen Klangkunst kontrastiert und überlagert. Mit einer selbstbewussten, zeitgenössischen Musiksprache: Ein Dialog durch die Zeit, ein Dialog des verzweifelt atonikalen 21. mit jenem 18. Jahrhundert, das jede noch so schroffe Dissonanz in maximal zwei Schritten auflöst.

Es kratzt also und ächzt. Und das Premieren-Anrechts-Publikum seufzt und raunt und tuschelt. Es klingt ein wenig enttäuscht. Ja will man denn in der Oper mit der Gegenwart konfrontiert werden?

Man soll jedenfalls. Dafür ist sie ja da: Oper, das wird so gern vergessen, ist eine politische Kunstform. Mit der letzten Inszenierung der Spielzeit erinnert das Bremer Theater nachdrücklich daran. Oper hat Inhalte, Sujets wie das Schauspiel. Aber sie ist viel aufdringlicher: Die Augen kann man schließen, und gesprochene Botschaften mag man missverstehen. Oder ausblenden. Musik dagegen ist unmittelbar, ihr Inhalt gerinnt nie zur platten message. Sie ergreift. Dringt direkt ins Hirn. Lässt keinen Frieden. Und, böse, böse: Ohren haben keine Lider.

Man hätte das wissen können: Erstmals gespielt worden war Czernowins „Zaïde/Adama“-Projekt 2006 bei den Salzburger Festspielen. Es war ein seltener Triumph, exportiert an die Bühnen von Basel und Montpellier. Die Bremer Aufführung ist die erste Neuinszenierung. Die Komponistin sagt, sie habe Mozarts Opern-Fragmente „wie einzelne historische Gebäude oder Ruinen“ behandelt „die zu einer weiten Dorfstruktur mit viel Raum dazwischen“ angeordnet seien.

In diesen hat sie ein eigenes Werk, mit eigener Handlung, eingefügt. Billige Zitate und Motivübernahmen sind ihre Sache dabei nicht. Verwandtschaft stellt sie nur durch einen bewusst fragmentarischen Gestus der Komposition her. Und durch eine Analogie der Plots.

Beide handeln von gesellschaftlich unmöglicher – tödlicher Liebe. Dabei kann Regisseurin Andrea Moses ohne große Intervention die Serail-Entführungsgeschichte „Zaïde“ – das Mädchen flieht mit dem illegalen Einwanderer Gomatz, der von ihrem Pascha Soleiman als Sklave gehaltenen wird – als aktuelles Ehrenmord-Drama zeigen. Das andere wird nur in arabisch-hebräisch-deutschen Wortfetzen und analysierten Lauten angedeutet: Ein Palästinenser liebt eine Israelin. Ihr Vater stellt sich gegen die von Ängsten und Traumata überlagerte Verbindung. Er will, er wird den Verführer bestrafen.

Die Konflikte bleiben individuell. Die Schicksale kreuzen sich im Raum – sie berühren einander nicht. Die handelnden Personen bewegen sich parallel zueinander. Selten genug erlaubt Regisseurin Andrea Moses, dass Yaron Windmüller als der „Mann“ aus „Adama“ fasziniert-beunruhigt Sara Hershkowitz überhaupt gewahrt. Und das dürfte schwer fallen: Atemberaubend-ausdrucksstark und hinreißend-schön lässt diese die Koloraturen der Zaïde durch ihre Kehle perlen, mit mehr Leichtigkeit als jede gesprochene Sprache je zu erreichen nur träumen kann.

Die Inszenierung…, stopp. Noch einmal zurück zu Hershkowitz. Sicher, auch die zweigeteilten Philharmoniker und das synchrone Dirigat von Daniel Montané – im Graben – und Florian Pestell – auf der Bühne – sind souverän, auch singt Benjamin Bruns den Gomatz ganz vorzüglich, und Windmüller und Noa Frenkel glänzten schon bei der Uraufführung als Mann-Frau-Paar: Ihre Silben-Duette, die zweifache schüchterne Annäherung der Liebenden ohne Grundton – beim zweiten Mal kann man das, merkten verschnupfte Salzburg-Kritiker an, als unverbrämten Kopulationsgesang hören – das sind Szenen, die man nicht vergisst.

Aber Hershkowitz ist einfach die perfekte Opernsängerin. Sie singt nicht nur absolut präzise, klar und rein – auch gegen die in die Mozart-Arien ragenden Cernowin-Flageoletts. Hershkowitz steht auch ohne peinliches Pathos, ohne abgenutztes Gefuchtel und ohne verkrampfte Oberlippe auf der Bühne. Sie verkörpert ihre Rolle, besser als so manche Schauspielerin das könnte. Eine Wucht.

So. Das musste einmal gesagt werden. Regisseurin Moses nutzt für ihre Inszenierung – anders als die von surrealen Bildern satte Salzburger Aufführung – eine weitgehend realistische Bühnensprache. Und sie trennt die Handlungsstränge scharf voneinander ab. Umso stärker wirken jene Momente, in denen Gesten diese unsichtbare Grenze durchbrechen. Das kann grandios komisch sein, wenn, im Überschwang trügerischer Hoffnung, Gomatz nicht nur die Knie der gut gesinnten Zaïde-AkteurInnen herzt. Sondern eben auch jene der unbeteiligten und mit anderen Sorgen befassten Adama-Protagonisten.

Es kann aber auch ein Symbol überwältigender Schmerzen werden: Nach ihrer Flucht eingefangen, hockt Zaïde, gefesselt und ein breites Pflaster überm Mund, am Fuß des Tresen. Im Nebenraum foltert der Besitzer der Café-Bar Gomatz und beider Helfer. Unterdessen wird der Palästinenser vom Vater der Israelin und seiner Schar in ein Loch gezerrt und gesteinigt – vor deren Augen. Ein Albtraum, verwirklicht in brachialem Schreigesang des Chors, begleitet von bösartigen Klappern.

Die Frau liegt am Boden. Mühsam robbt sie zur Seite, zur gefesselten Zaïde hin, entfernt ihren Knebel – und verschließt mit ihm ihren eigenen Mund. Kein Schrei. Schweigen. Und der Rest sind Tränen.

Nächste Aufführungen: Heute und 5., 13. und 18. Juni jeweils 19.30 Uhr sowie 8. Juni 18 Uhr, Theater am Goetheplatz, Bremen. www.theater-bremen.de