: Ermittlungsverfahren gegen Polizei
Die Staatsanwaltschaft hat im Fall des in Lübeck getöteten Achtjährigen ein Ermittlungsverfahren gegen Polizisten eingeleitet. Es geht um den Verdacht der unterlassenen Hilfeleistung. Der Junge war am Dienstag von seiner Mutter umgebracht worden
Laute Musik dröhne aus der Nachbarwohnung, beschwerte sich eine Anruferin bei der Mannheimer Polizei. Sie kündigte an, sie wolle dem Nachbarn „eine in sein dreckiges Maul boxen“. Der Beamte nahm das freundlich zur Kenntnis: „Kein Problem. Ja.“ Immerhin versprach er, einen Wagen zu schicken. Das Gespräch, sorgt seitdem für Lacher bei „Youtube“ – denn dort ist der Notruf inzwischen gelandet. In München versuchte 2000 ein Anwohner vergebens, eine Sachbeschädigung zu melden. Da der Anrufer seinen Namen nicht nannte, sagte der Polizist: „Dann vergess ma des Ganze.“ In einer Warteschleife landen Anrufer in Erlenbach am Main: „Polizei-Notruf, bitte legen Sie nicht auf!“ Das habe „technische Gründe“, solle aber auch „Personen aufschrecken, die sich einen Scherz erlauben wollen“, hieß es im Amtsblatt. Der Rat an Unfall- und Verbrechensopfer: „Warten Sie die Bandansage ab“, irgendwann ist die Leitstelle dran. EST
VON ESTHER GEISSLINGER
Nach der Familientragödie in Lübeck hat die Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren gegen die Polizei eingeleitet. Dabei gehe es um unterlassene Hilfeleistung, sagte Oberstaatsanwalt Klaus-Dieter Schultz am Donnerstag. Am Dienstag hatte eine 45-jährige Lübeckerin ihren acht Jahre alten Sohn Marco getötet und versucht, sich selber das Leben zu nehmen. Das Kind starb in der Badewanne, unter Wasser gehalten von seiner Mutter, die ihn zuvor mit Schlaftabletten betäubt hatte. Sie schluckte ebenfalls Schlaftabletten. Als die Polizei in die Wohnung kam, lebte sie noch. Zurzeit ist die 45-Jährige, die die Tat gestand, in einer Fachklinik untergebracht.
Eine Bekannte der Mutter berichtet, sie habe sich bereits am Montagabend bei der Polizei gemeldet und mitgeteilt, dass sie „sehr besorgt“ sei. Sie befürchte einen Selbstmord der Frau und sehe große Gefahr für deren Sohn. Zu diesem Zeitpunkt lebte Marco wahrscheinlich noch – doch die Beamten reagierten nicht, berichtet die Frau. Stattdessen sei sie aufgefordert worden, selbst noch einmal in die Wohnung zu gehen und nachzuschauen.
Der Fall wäre einmalig und vollkommen unbegreiflich: „Ich kann mir nicht vorstellen, dass es einen solchen Anruf gibt und die Polizei nicht handelt“, sagt Oliver Malchow, Landesvorsitzender der Gewerkschaft der Polizei, der taz. Das übliche Verfahren sieht vor, auf jeden Notruf zu reagieren: „Wir fahren bei der kleinsten Ruhestörung raus. Ich kann mir keinen einzigen Fall denken, bei dem es um eine Gefahr für Leib und Leben geht und die Polizei nicht reagiert.“ Es könne höchstens sein, dass die Hinweise zu unkonkret gewesen seien, so dass die Beamten „keine akute Gefahr gesehen“ hätten.
Die Beamten waren erst ausgerückt, nachdem sich eine weitere Bekannte der Mutter gemeldet hatte. Als die Feuerwehr die Wohnungstür aufbrach, fanden die Polizisten die Frau bewusstlos und den Sohn tot vor. Dass die Staatsanwaltschaft gegen die Beamten ermittelt, hält der Gewerkschaftsvorsitzende für „absolut richtig“: „Das klärt die Umstände.“ Zurzeit gehe er davon aus, dass es „kein Fehlverhalten gegeben hat“. Im Lübecker Revier sei „alles richtig organisiert“, strukturelle Probleme gebe es nicht, und selbst wenn: „Ein Argument wie mangelnde Zeit kann bei einem solchen Verdacht nicht zählen.“
Unbegreiflich nennt auch Heinz-Werner Arens, Landesvorsitzender der Opferschutz-Organisation „Weißer Ring“, den Fall: „So etwas ist meiner Kenntnis nach noch nicht passiert.“ Auch er sagt, dass noch geprüft werden müsse, was genau geschehen sei und ob die Vorwürfe stimmten. „Aber wenn es so sein sollte, ist es ganz klar ein Fehlverhalten, das ich nicht verstehen kann.“
Die Lübecker Polizei wollte bisher keine detaillierte Stellungnahme abgeben. Dem Flensburger Tageblatt sagte Polizeisprecher Jan-Hendrik Wulff: „Auch Polizisten machen Fehler. Sollte sich herausstellen, dass es so war, werden wir uns dazu auch äußern.“
In Lübeck herrschte in den vergangenen Tagen Trauer um den getöteten Jungen. Seelsorger und Psychologen kümmerten sich um die Kinder der Klasse 2c der Klosterhofschule, die Marco besuchte.