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Archiv-Artikel

Die Mühen der Ebene

Vor zehn Jahren gründeten Globalisierungskritiker in Frankreich Attac. Damals klang die Losung „Märkte entschärfen!“ aufregend – heute fordert das sogar Bundespräsident Horst Köhler

VON ULRICH SCHULTE

Den Effekt kennt jeder: Wenn man erwachsen wird, machen Geburtstage immer weniger Spaß. Was in der Kindheit aufregend und neu war, gerinnt irgendwann zur Routine. So geht es Attac. Die Globalisierungskritiker fanden sich vor zehn Jahren, und das Geburtstagskind hat heute ein echtes Problem. Alle Themen, die die Globalisierungsgegner vor Jahren aufgebracht haben, sind im Mainstream angekommen.

Am 3. Juni 1998 gründete sich die erste Gruppe des globalisierungskritischen Netzwerks in Frankreich, die Losung lautete: Die Märkte entschärfen, die Finanzmächte entwaffnen! Die Idee stammte aus einem Leitartikel der Le Monde diplomatique, das Instrument, eine Steuer auf Finanzgeschäfte, vom Ökonomen und Nobelpreisträger James Tobin. Ende der 90er-Jahre, zur Hochzeit der New Economy, schien diese Mahnung radikal, aufregend und etwas weltfremd.

Heute sind selbst Marktapologeten rhetorisch zu Attaclern mutiert. Stromkonzerne enteignen? Das fordert inzwischen selbst die EU-Kommission, mancher Konzern will sein Netz sogar freiwillig verscherbeln. Kritik an Privatisierungswut? Immer mehr Kommunen kaufen ihre Stadtwerke inzwischen zurück, die Bahn bleibt nach einer Revolte in der SPD größtenteils Staatseigentum. Regelung der Finanzmärkte? Bundespräsident Horst Köhler bezeichnet sie als „Monster“ – und der Exdirektor des Internationalen Währungsfonds tut das, ohne rot zu werden.

Einerseits muss man das Geburtstagskind zu dem Punktsieg im Meinungswettstreit beglückwünschen: Wie ein Transmissionsriemen hat Attac die eigenen Themen in die öffentliche Agenda geschaufelt. Galt die Globalisierung in der neoliberalen Deutung vor allem als Verheißung, sind jetzt auch die Schattenseiten bekannt. „Das ist der beachtlichste Erfolg von Attac“, sagt der Sozialwissenschaftler und Bewegungsforscher Dieter Rucht, selbst Attac-Mitglied. „Doch die Zeiten der Euphorie sind vorbei. Attac ist in den Mühen der Ebene angekommen.“

Zumal sich angesichts des Erfolgs immer drängender die Frage stellt: Was nun, Attac? Wenn alle ähnlich reden, droht die Marke zu verwässern. Und über die Macht, tatsächlich Ideen zu verwirklichen, verfügt das strikt außerparlamentarisch und basisdemokratisch agierende Bündnis nicht. „Attac kann bei der Umsetzung wenig leisten“, sagt Rucht. „Der Organisation bleibt die Rolle des Hundes, der vor der Tür steht und bellt.“

Das Dilemma, vor das der Zeitgeist die Organisation stellt, ist den Attaclern bewusst. Sven Giegold, der die deutsche Attacgruppe im Jahr 2000 mitgründete, sagt: „Wir müssen jetzt die Ernte unserer Diskursarbeit der vergangenen zehn Jahre einfahren.“ Heißt übersetzt: Die Politik mit Kampagnen zum Handeln zwingen. Und da sich die weltweiten Finanzmärkte nur mit internationalen Ansätzen in den Griff bekommen ließen, müsse Attac in Zukunft Kampagnen international koordinieren. „Nur so kann man mehrere relevante Regierungen zum Handeln bewegen.“

Dabei fängt Attac erst mal mit Europa an: Im August organisieren die Globalisierungskritiker in Saarbrücken die Europäische Sommer-Universität, bis zu 1.000 Attacler aus zehn EU-Ländern werden das zehnjährige Jubiläum feiern – und sich vor allem „intensiver Strategieentwicklung“ widmen, sagt Jutta Sundermann, die im Strategiegremium „Koordinierungskreis“ sitzt. „Insofern ist der Geburtstag auch eine Suche.“

Den Kampf führt Attac nicht alleine – in der Vergangenheit hat die Organisation immer mit anderen Gruppen zusammengearbeitet und war zu allen Seiten anschlussfähig: In Debatten über Hartz IV zu Gewerkschaften, aber auch zu Arbeitslosen-Initiativen. Beim G-8-Gipfel in Heiligendamm zu linken Autonomen, aber auch zu Nichtregierungsorganisationen. Aktuell sitzen drei Grüne im Koordinierungskreis. In den Anfangszeiten wäre dies undenkbar gewesen – die Nähe zu einer Partei war ein sicheres Kriterium für die Nichtwahl des Kandidaten.

Auch zehn Jahre nach der Gründung mögen gerade junge Menschen Attac. Diese Beliebtheit beruht vor allem auf der Experimentierlust der Organisation: Ob Kohlehaufen vor Kraftwerken erstürmen, Straßentheater oder Flashmob – der Protest kommt bei Attac selten moralinsauer daher. Entsprechend lässt die Mitgliederkurve jeden Partei-Geschäftsführer vor Neid erblassen. Im April 2007, vor den furiosen Protestwochen des G-8-Gipfels in Heiligendamm, zählte Attac Deutschland 17.000 Mitglieder, heute sind es gut 19.500. Und jeden Monat kommen 70 dazu. In der Sprache der Finanzmärkte könnte man sagen: Attac ist weiter auf Wachstumskurs.