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Archiv-Artikel

Grass ruft Ho-Ho-Ho-Chi-Minh

Am Freitagabend trugen Autoren in der Akademie der Künste alte und neuere Texte von und über 1968 vor. In der anschließenden Diskussionsrunde redeten alle aneinander vorbei: Geht es um Form oder um Inhalt? Lustig war es allemal

VON ANDREAS RESCH

Nur wenige Monate nach den Studentenprotesten im Jahr 1968 begann der Regisseur Klaus Lemke mit den Dreharbeiten zu „Brandstifter“. Aus heutiger Perspektive sah sein Film in erstaunlich hellsichtiger Weise voraus, in welche Richtung sich die 68er-Bewegung entwickeln würde. Lemkes Film stellt zwei Weltsichten einander gegenüber: Auf der einen Seite die der Marcuse zitierenden Studenten, auf der anderen die der eher schweigsamen Anka (Margarethe von Trotta), die gleich zu Beginn des Films ein Kaufhaus anzündet. „Brandstifter“ belegt, dass es schon so kurz nach 1968 möglich war, sich auf künstlerischer Ebene reflektiert mit den Geschehnissen jener Epoche auseinanderzusetzen.

Dass Lemkes Film in dieser Hinsicht allerdings eher eine Ausnahme darstellt, offenbarte am Freitagabend die Veranstaltung „1968. Nacht der Literatur“ in der Akademie der Künste. Nachdem Volker Braun das Publikum mit den Worten „Willkommen im vollen, aber nicht besetzten Plenarsaal“ begrüßt und Cellist Frank Wolff ein atonales Stück interpretiert hatte, in dem er unter anderem die Internationale verhackstückte, trugen Autoren wie Günter Grass, Uwe Timm oder Christa Wolf – aber auch Jüngere wie Tanja Dückers und Ulrich Peltzer – Texte vor, die um 1968 herum entstanden sind: Lyrik, Prosa, politische Schriften, etwa das Manifest der Gruppe 47 gegen Springer oder eine Stellungnahme der APO zum Tod von Benno Ohnesorg.

Ulrich Peltzer las „Kein Verkehr“ von Peter Schneider, Uwe Timm „Von der Servilität der Presse“ von Reinhard Lettau, Volker Braun trug „Armes Schwein“ von F.C. Delius vor. Allerdings zeigte sich relativ bald, dass gerade der Lyrik jener Epoche die Politisierung alles andere als gut getan hat: zu plakativ, zu wenig subtil. Unter literarischen Aspekten konnten vor allem Uwe Johnsons Text über die „guten Leute“ sowie Karl Mickels „Hofgeschrei“ überzeugen, letzterer wurde lebendig vorgetragen von Volker Braun: „Du sollst oben kommen sofort mit dem Ball / Hab ich dir gesagt! wo ist der Ball / Suche sofort den Ball du kriegst Dresche / Wenn du oben kommst ohne den Ball“.

Trotz ihrer eher durchwachsenen Qualität waren die vorgestellten Texte bestens als Grundlage für eine anschließende Gesprächsrunde geeignet, in der Moderator Martin Lüdke die Frage nach der „Einflussnahme von Kunst auf die Gesellschaft – und umgekehrt“ diskutiert wissen wollte. Dass das Gespräch jedoch eher schleppend in Gang kam, lag primär an einem grundlegenden Missverständnis, das die Diskutanten aus dem Weg zu räumen selbst nicht in der Lage waren. Während die einen, allen voran Günter Grass, von einer inhaltlichen Ebene her argumentierten und immer wieder die Wichtigkeit von politischen Stoffen hervorhoben, betonten andere, insbesondere Ulrich Peltzer, die Notwendigkeit, politische Entwicklungen vor allem auf einer formal-ästhetischen Ebene zu reflektieren. Am ehesten schien da Uwe Timm in der Lage, Stoff und Form zusammenzubringen, als er ein „Moment der Sinnlichkeit“ in der Literatur einforderte.

Dass die Diskussion trotz ausbleibender Ergebnisse alles andere als langweilig war, lag vor allem an Günter Grass, der im fortschreitenden Alter zum Entertainer zu mutieren scheint. Einmal gab er tatsächlich und zur Überraschung aller einen „Ho-Ho-Ho-Chi-Minh“-Ruf zum Besten, ein anderes Mal sorgte er mit dem Satz, Enzensberger habe „schon damals hinter seinem eigenen Rücken Gedichte geschrieben“ für Erheiterung. Mit heftigem Applaus bedacht wurde seine – anscheinend völlig ernst gemeinte – Forderung: „Wir brauchen ein neues Achtundsechzig!“

Mit den Worten: „Es gibt keine Möglichkeit, diese Diskussion zusammenzufassen, sondern nur die, sie abzubrechen“, beendete Martin Lüdke nach einer guten Stunde ein Gespräch, in dessen Verlauf eine ältere Dame im Publikum ungestraft Welt kompakt hatte lesen dürfen. Interessant waren noch die später entstandenen Texte, die Uwe Timm, Christa Wolf und Emine Sevgi Özdamar im Anschluss vortrugen. In „Die Brücke vom goldenen Horn“ schildert Özdamar, wie ihre Protagonistin 1968 als junge Frau aus der Türkei nach Berlin kommt. Anhand einer studentischen Diskussion über „La Chinoise“ und der sich daraus ergebenden Frage, ob Godard als bourgeoiser Filmemacher nicht prinzipiell abzulehnen sei, gelang es ihr, in nur wenigen Sätzen jene Mischung aus Fasziniertheit und Verwirrung verstehbar zu machen, welche ihren Blick auf 1968 kennzeichnet.