: Tee mit Buddha
Beim Hören zusehen
Sie sitzt gegenüber. Ihre Knie berühren sich, die Füße sind seitlich ausgestellt und das sieht ein bisschen seltsam aus, als hätte sie X-Beine. Aber sie sitzt da mit geschlossenen Augen, ganz ruhig, sehr entspannt, die Außenwelt existiert nicht. Nicht für sie. Sie ist strohblond, vielleicht 30 Jahre alt, um den Hals eine Kette, irgendwas Kunsthandwerkliches, vielleicht aus Afrika mitgebracht. Sie ist nicht hässlich, aber auch nicht hübsch, eher spröde, blässlich sogar, aus Norddeutschland vielleicht, sie hat was Evangelisches. Und sie lächelt und lächelt. Sie ist verzückt. Sie hört Musik.
Die Musik ist aber so leise, dass wir Mitreisende sie nicht hören können. Aber manchmal, wenn die S-Bahn hält, öffnet sie kurz die Augen und wirft einen leeren, unbestimmten Blick ins Irgendwo. Doch das, was sie dort sieht, scheint ihr nicht zu gefallen. Denn sie schließt die Augen sofort wieder und setzt erneut ihr Lächeln auf. Es ist ein wenig spöttisch, dieses Lächeln, aber vor allem entschieden entrückt. Es ist selbstzufrieden, dieses Lächeln, fast ein bisschen arrogant, es wirkt, als würde es große Weisheit schauen. Es kann schweben, dieses Lächeln, es sagt uns anderen, der alltagsgrauen Masse: Dieser Mensch ist ganz bei sich in diesem einen Moment, dieser Mensch ruht in sich selbst. Dieses Lächeln trinkt täglich Tee mit Buddha.
Kurz vor Hermsdorf öffnet sie wieder die Augen. Erkennen flackert durch ihren Blick. Für einen kurzen Moment scheint es, als tauchte sie auf aus der Ewigkeit, als erwache sie in einer fremden Welt. Sie legt ihre Tasche in den Einkaufskorb, schiebt ihr Rad durch die Tür, ist verschwunden und mit ihr das Lächeln. Man sollte unbedingt rauskriegen, was das für Musik war, die sie gehört hat. THOMAS WINKLER