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Archiv-Artikel

Die neuen Deutschlinge

Sie sind jung. Sie spielen Bundesliga. Sie spielen nicht mehr automatisch für die Türkei. Der Kampf der Fußball-Verbände um die talentierten Deutschtürken

VON DENIZ YÜCEL

Fast ihr gesamtes Fußballerleben haben Baris Özbek und Serkan Calik zusammen verbracht: A-Jugend bei Rot-Weiß-Essen, Regionalliga, Aufstieg, Zweite Liga, Abstieg; 2007 der Wechsel zu Galatasaray, Stammspieler, türkischer Meister. Anfangs teilten sie sich in Istanbul eine Wohnung, jetzt sind sie Nachbarn. Den Anfang ihres Urlaubs verbringen beide im Ruhrgebiet: Calik bei seinen Eltern in Dinslaken, Özbek bei seiner Familie in Castrop-Rauxel. „Wir sind wie Brüder“, sagen beide. In der Nationalmannschaft aber werden sie getrennte Wege gehen.

Nachdem Calik von U21-Trainer Dieter Eilts nicht mehr berücksichtigt worden war, erklärte er Anfang dieses Jahres, er wolle künftig für die türkische Nationalmannschaft spielen. „Ich habe dort die besseren sportlichen Perspektiven gesehen“, sagt er. „Ich habe mich mit meiner Familie beraten und dann entschieden.“ Zur Freude seines Vaters Ahmet Calik. Der findet es besser, wenn „mein Sohn mit der türkischen Fahne auf der Brust spielt“. Damit bestätigt er eine Erfahrung, von der Funktionäre des Deutschen Fußballbundes immer wieder berichten: „Bei den türkischstämmigen Spielern ist oft der familiäre Einfluss ausschlaggebend“, sagt Sportdirektor Matthias Sammer.

Ahmet Calik sagt aber auch: „Die Deutschen lassen die Jungs vielleicht in der Jugend spielen, aber welchen Türken haben sie schon in die A-Nationalmannschaft aufgenommen? Mustafa Dogan durfte vor zehn Jahren ein, zwei Spiele machen – das war’s.“

Mit solchen Zweifeln will Özbek aufräumen. Da er auch nach Vollendung seines 21. Lebensjahres für die deutsche U21 gespielt hat, darf er nicht mehr für die Türkei antreten. Er hat ohnehin anderes im Sinn: „Ich werde der erste Deutsch-Türke sein, der sich in der deutschen Nationalmannschaft durchsetzt“, sagt er kämpferisch. Seine kleine Hoffnung, von Joachim Löw für die EM nominiert zu werden, hat sich zwar nicht erfüllt, aber ein Stammplatz in der deutschen U21 ist ihm sicher.

„Wir haben mit Baris Özbek gesprochen und ihm gezeigt, dass schon viele Talente über unsere U21 den Sprung in die A-Nationalmannschaft geschafft haben“, sagt Sammer. Durch seinen Wechsel in die Türkei hätten sich Özbeks Aussichten nicht verschlechtert. Gute Spieler stünden „immer im Fokus der Nationalmannschaft“.

Özbek ist der Erste, bei dem der DFB die türkische Konkurrenz ausstechen konnte. Der letzte Fall, bei dem man öffentlich um die Gunst eines deutsch-türkischen Talents stritt, ging noch anders aus. Kaum ist der Dortmunder Nuri Sahin im August 2005 im Alter von 16 Jahren und 355 Tagen als jüngster Bundesligaspieler aller Zeiten in die Geschichte eingegangen, begann der Kampf um „das größte Talent unter 18 Jahren in Europa“, wie ihn Arsenal-Trainer Arsène Wenger seinerzeit bezeichnete. Sahin entschied sich gegen den DFB, führte noch im selben Jahr die türkische U17 zur Europameisterschaft und feierte kurz darauf sein Debüt in der A-Nationalmannschaft. Unter frenetischem Jubel der Fans im Istanbuler Atatürk-Stadion wurde er eingewechselt und schoss prompt den Siegtreffer zum 2:1. Der Gegner: Deutschland.

Metin Tekin ist im 1998 gegründeten Kölner Europabüro des türkischen Fußballverbandes für den sportlichen Bereich verantwortlich. Ohne den Fall Sahin zu nennen, stellt er selbstbewusst fest: „Wenn sich ein Spieler für die Türkei entschieden hat, kann der DFB mit zehn Trainern und Psychologen anrücken, das wird nichts ändern.“ Mit seinen Mitarbeitern sichtet er Jahr für Jahr in Europa rund 200 türkischstämmige Nachwuchsspieler – um ihnen anzubieten, „für ihr Vaterland zu spielen“. Von Marginalien wie einer fehlenden Staatsbürgerschaft lässt er sich dabei nicht abhalten. „Anders als der DFB fördern wir auch solche Spieler, die erst mal gar nicht für uns spielberechtigt sind.“ Notfalls sorge man dafür, dass ein Spieler die deutsche Staatsbürgerschaft wieder abgebe. Ob das nicht integrationsfeindlich ist? „Die Deutschen haben sich jahrzehntelang nicht um die Türken gekümmert“, antwortet er unwirsch. „Wenn sie jetzt von Integration reden und das ernst meinen, sollen sie die doppelte Staatsbürgerschaft erlauben.“

Dennoch muss Tekin eingestehen, dass sich die türkischen Talente nicht mehr selbstverständlich für die Türkei entscheiden. Die Zeiten, in denen die Teams des DFB frei waren von Vertretern der größten Einwanderergruppe, sind vorbei. Der Wandel zeigt sich bei den U21-Mannschaften beider Länder. Bei den Türken finden sich außer Nuri Sahin noch Zafer Yelen (Hansa Rostock), Alparslan Erdem (Werder Bremen II) und Bilal Cubukcu (Hertha BSC Berlin II). Doch fast genauso viele sind es in der deutschen U21: Serdar Tasci, Innenverteidiger der Stuttgarter Meistermannschaft von 2007, Mesut Özil von Werder Bremen – und eben Baris Özbek.

An dieser Spielergeneration fällt auf, dass viele von ihnen die Frage des Nationalteams eher sportlich und nicht so ideologisch sehen wie ihre Vorgänger. „Da ich in Deutschland geboren und aufgewachsen bin, empfinde ich es nicht als so außergewöhnlich, für das DFB-Team zu spielen“, sagt Tasci. Özbek ergänzt: „Wenn ich in der deutschen Nationalmannschaft spiele, repräsentiere ich auch die Türkei.“ Selim Teber, der einer der ersten war, der sich für die deutsche U21 entschied, sagt: „Die deutsche Nationalmannschaft hat sich stark geändert. Die Jungen können heute sagen: Wenn ein Podolski, Odonkor oder Kuranyi für Deutschland spielen können, werde ich bestimmt auch akzeptiert.“

An Podolskis und Kuranyis fehlte es lange Zeit. Es gab andere Vorbilder – und andere Orientierungen. Allen voran Ümit Davala. Aus der badischen Landesliga wechselte er Anfang der Neunzigerjahre in die Türkei, arbeitete sich von der anatolischen Provinz zu Galatasaray hoch, gewann mit dem Istanbuler Club den bislang einzigen Uefa-Pokal eines türkischen Teams und kam schließlich nach Bremen, um zum Ende seiner Karriere in Deutschland das Double zu gewinnen. Zugleich war er einer von fünf in Westeuropa aufgewachsenen Spielern, mit denen die Türkei bei der WM 2002 Dritter wurde – zur Überraschung einer deutschen Öffentlichkeit, die von dem Mannheimer Jungen Davala bis dahin ebenso wenig gehört hatte wie vom Allgäuer Ilhan Mansiz oder vom Hanauer Tayfur Havutcu. „Ich habe an mich geglaubt, aber in Deutschland keine Perspektive gesehen“, erzählt Davala, der inzwischen Türkeis U21 trainiert. „Oder glaubt jemand, ich hätte die Chance gehabt, mit Bremen Meister zu werden und in der deutschen A-Nationalmannschaft zu spielen, wenn ich hier geblieben wäre?“ Für Türken sei es „im eigenen Land einfacher“. Das „eigene Land“, das ist für Davala die Türkei.

Dass Deutschtürken mittlerweile erst gar nicht in die Türkei wechseln wollen, liegt auch daran, dass Davala von einem anderen role model abgelöst wurde: Yildiray Bastürk. Er war der erste Türke, der sich in der Bundesliga etablierte und mit dem türkischen Nationalteam erfolgreich war. Halil Altintop nennt ihn „ein großes Vorbild“. Zafer Yelen von Bundesligaabsteiger Hansa Rostock verweist auf Bastürk, wenn er begründet, warum er lieber mit Hansa um den Wiederaufstieg in die Bundesliga spielen will, anstatt zu einem türkischen Club zu wechseln. Auch Spieler aus unteren Klassen orientieren sich an dem einzigen türkischen Spieler, der jemals in einem Champions-League-Finale stand.

Sie dürfen aber nicht darauf hoffen, dass alle in der Türkei auf fußballerische Entwicklungshilfe aus Deutschland nur so warten. „Es gibt seit längerem eine gewisse Stimmung gegen die Auslandstürken nach dem Motto: ,Wie kann es sein, dass die 2,5 Millionen Türken in Deutschland einen Nationalspieler nach dem anderen stellen, 70 Millionen in der Türkei aber keine elf Spieler zusammenkriegen?‘“, erzählt Bagis Erten, Sportredakteur der linksliberalen Tageszeitung Radikal. Zwar missbilligen es viele, wenn sie sich für ein anderes Land entschieden, zugleich gebe es Vorbehalte gegen die „Deutschlinge“.

Dass Nationaltrainer Fatih Terim vor der EM zwei von ihnen, Schalkes Halil Altintop und ausgerechnet Yildiray Bastürk aussortiert und Youngstar Sahin gar nicht ins Aufgebot genommen hat, hält Erten nicht nur im Hinblick auf die EM für einen schweren Fehler. Er sagt, die Entscheidung gegen Bastürk werde es dem türkischen Verband künftig erschweren, junge Auslandstürken für sich zu gewinnen.

Beim heutigen EM-Gegner der Türken sieht die Lage schon anders aus. Bereits in den Neunzigern gelang es den Schweizern, mit Kubilay Türkyilmaz ein role model zu etablieren. In der türkischen Nationalmannschaft gab es bislang keinen Schweizer Türken, dafür standen beim Auftaktspiel der Schweizer gegen Tschechien zuletzt drei türkischstämmige Fußballer auf dem Platz.

Gut möglich, dass Serkan Calik und Baris Özbek bald in eine ähnliche Lage kommen. Was machen sie, wenn sie in einem wichtigen Länderspiel gegeneinander antreten müssen? „Das wäre geil“, sagt Calik. Und Özbek sagt lachend: „Dann putze ich ihn weg.“ Dabei wäre es ihm keine Freude, die Türkei zu schlagen. „Aber als Spieler willst du immer gewinnen, egal gegen wen.“

Wenn der DFB Özbek bei entsprechender Leistung eine Chance gibt, könnte er zum neuen role model für die kommende Generation werden – auf dem Platz und außerhalb. Funktionär Metin Tekin sieht das gelassen: „Dank der exzellenten Ausbildung in Deutschland gibt es hier genug Sahins und Özbeks, dass es für beide reicht.“