: „Die Fans wollen sich selbst spüren“
Die Gesänge der Fans in den Fußballstadien sind für den Autor und Regisseur Alfred Behrens eine moderne Form der Folklore. Also machte Behrens in 22 Stadien Tonaufnahmen, die er zu einer „Originalton-Kantate“ verdichtete und die das Nordwestradio unter der Rubrik „Hörspiel“ sendet
ALFRED BEHRENS, 63, gebürtiger Hamburger, lebt als Autor und Regisseur in Berlin. Seit 1968 hat er mehr als 50 Hörspiele für die ARD gemacht.
INTERVIEW KLAUS IRLER
taz: Herr Behrens, ist es in puncto Fangesänge nicht schade, dass die Engländer nicht bei der Europameisterschaft dabei sind?
Alfred Behrens: Wir sind ja für unsere Originalton-Kantate durch sechs europäische Länder gereist und haben in 22 Stadien Aufnahmen gemacht. Die schönsten Gesänge habe ich in der Tat in Liverpool gehört, bei einem Champions-League-Spiel gegen Leverkusen.
Von Liverpool heißt es ja auch, im dortigen Stadion sei der Fangesang erfunden worden. Stimmt das?
Ich glaube schon. Die Legende sagt, dass Mitte der 1960er Jahre vor dem Anstoß in Liverpool immer die „Gerry And The Pacemaker“-Version von „You’ll Never Walk Alone“ über die Lautsprecheranlage eingespielt wurde. Irgendwann sollen die Lautsprecher ausgefallen sein und die Fans hätten daraufhin das Lied ganz alleine zu Ende gesungen.
Wie haben Sie die Fangesänge für sich entdeckt?
Das war bei einem Spiel Hertha BSC Berlin gegen Bayern im Berliner Olympiastadion. Wir sind zu spät gekommen und da habe ich gespürt, wie mich die ganze Stadionatmosphäre umhüllt hat. Da ist die Idee gekommen, ein immersives Hörspiel zu machen, in Surround 5.1. Heute halte ich die Fangesänge für eine Kunstform, für mein Empfinden ist das moderne Folklore.
Worin besteht der künstlerische Anteil?
Der Fußball-Fan, der im Stadion im Kollektiv singt, ist auch ein Autor: Die schreiben neue Texte auf bekannte Melodien. Das ist ja wirklich auch eine kreative Textarbeit. Deswegen nenne ich das moderne Folklore. Und es gehört ja auch dazu, dass man seine eigene Mode kreiert. Das habe ich bei den Italienern noch deutlicher gesehen als anderswo.
Aber das Repertoire an Melodien, die die Fans singen, scheint mit Stücken wie „Yellow Submarine“, „Go West“, „Guantanamera“ oder „When The Saints Go Marching In“ überschaubar zu sein.
Nein, es sind schon mehr Melodien. Das habe ich am Millerntor bei St. Pauli erlebt. Die haben bei einem Spiel, das wir aufgezeichnet haben, so etwa im 90-Sekunden-Takt die Melodie gewechselt. Das hat mich begeistert. Die Fans des FC St. Pauli kommen für mich gleich nach denen in Liverpool.
Gibt es in Ihrem Hörspiel eine Handlung?
Es gibt eine Struktur von Strecken und Stationen. Man hört die Töne eines Roadmovies, wir sind unterwegs zwischen den einzelnen Stadien – mal mit dem Auto, mal mit der Eisenbahn, mal mit dem Flugzeug. Wir erzählen die Annäherung an das Stadion: In London zum Beispiel fuhren wir mit der U-Bahn zum Bahnhof Arsenal, und dann steigt man da viele Stufen hoch und dann kommt man auf die Straße und hört die Hufe der berittenen Polizei, man hört die Leute „Spare Tickets, Spare Tickets!“ rufen. Und wir bewegen uns mit laufendem Aufnahmegerät in das Stadion hinein. Dann hört man das Spiel und danach fahren wir als nächstes mit dem Taxi in Barcelona zum Stadion. Das ist eine Andeutung von Handlung, aber eigentlich ist es Musiktheater und im Mittelpunkt steht der Gesang.
Was ist die Funktion des Fußball-Gesangs?
Es geht um Identitätsstiftung. Ich habe das in Liverpool erlebt und bei Arsenal in London, in Florenz und in Barcelona und glaube, dass der Fußball eine Art Ersatzreligion geworden ist. Diese großen Fußball-Stadien sind die Kathedralen der Jetzt-Zeit. Wenn man dort hingeht, dann findet man ein Gemeinschaftserlebnis, das früher in der Kirche gefunden werden konnte und das sich heute einfach einen neuen Ort gesucht hat.
Das hieße, die Fans singen nicht, um die Spieler zu adressieren, sondern um ihrer selbst willen.
Die Fans singen, um sich selbst intensiver zu spüren. Es ist ein körperliches Mit-Schwingen. Das Phänomen ist vergleichbar mit dem Tanz in Diskotheken. Insgesamt findet eine Emotionalisierung im Fußball-Stadion statt und es gibt eine dialektische Gleichzeitigkeit zwischen dem Sich-Selbst-Spüren und einer Affirmation der Spieler.
Donnerstag um 18 Uhr wird in Klagenfurt die Vorrundenpartie Deutschland gegen Kroatien angepfiffen. Bekannt sind die Fans der deutschen Nationalmannschaft dafür, dass sie in ihren Gesängen eher überschaubar kreativ sind: Da gibt es das unvermeidliche „Steht auf / Wenn ihr Deutsche seid“ oder auch das martialisch gebrüllte „Sieg!“ im Anschluss an einen gemeinsam geklatschten, leicht synkopischen Rhythmus. Gern genommen auch: „Lukas Podolski!“ oder: „Super Deutschland – Olé!“ Auf kroatischer Fanseite sind Gesänge zu erwarten, deren sinngemäße Übersetzung laut worldcupwiki.org wie folgt lautet: „Verschwindet Leute, verschwindet aus der Stadt, die besoffene Truppe ist im Anmarsch.“ Oder: „Weiss-rot kroatische Felder auf dem Trikot erinnern mich daran, daß ich dich liebe. Spielt für sie, unsere Geliebte, es soll stärker schlagen, dieses feurige Herz.“ Und dann noch, als kleiner Schmähgesang: „Wer nicht hüpft, wer nicht hüpft, ist ein Deutscher“. KLI
Welche Rolle spielt die Idee, durch den Gesang Einfluss zu nehmen auf den Spielverlauf?
Natürlich möchte der Fan das. Das war auch schon während meiner Kindheit in Hamburg so, bei Altona 93 oder beim HSV oder bei St. Pauli: Man hat auch schon vor dem Anstoß seine Mannschaft angefeuert. Man war relativ aggressiv damals mit Rufen wie: „Haut ’se, haut ’se, immer auf die Schnauze!“
Haben Sie damals auch schon gesungen?
Nein. Ich kann mich absolut nicht daran erinnern, dass gesungen worden wäre in den Hamburger Stadien meiner Kindheit. Ich glaube, dass sich der Fangesang erst in den 1970ern ausgebreitet hat.
Ist der Fangesang letztlich ein Kriegsgesang?
Ja, „War-chants“ ist eine englische Bezeichnung, „War-cries“, Kriegsgeheul, Kriegsgeschrei – das steckt da alles drin. Es wird ja auch die Ansicht vertreten, dass der Fußball Ähnlichkeit habe mit dem Krieg. Die Kriegsmetapher trifft man aber auch in vielen anderen Bereichen, nicht nur im Fußball. Im Fußball wird es vielleicht deutlicher, weil uns die Sprache mit „Angriff“, „Verteidigung“, „Sturm“ auch aus dem Vokabular des Krieges vertraut ist.
Das Hörspiel „You’ll never walk alone – Europäische Stadionsounds“ wird am Freitag, 13. Juni, um 22.05 Uhr auf Nordwestradio gesendet