BERLINER PLATTEN
: Dumpfe Wucht: Max Müller kennt auf seinem neuen Soloalbum den Gleichklang von Neurosen und Träumerei

Man muss sich so seine Gedanken machen. Das neue Soloalbum von Max Müller, dem Vater der Band Mutter, kommt in seinem Titel mit einem von Karl Valentin ausgeborgten Sinnspruch, der ja wusste, dass die Zukunft früher auch schon mal besser gewesen ist. Nur hat Müller das eben noch einmal nach rückwärts gespielt, in die Retrospektive: „Die Nostalgie ist auch nicht mehr das, was sie früher einmal war“ heißt das Album. Was erst einmal schlicht sagen will, dass die Erinnerung mit dem, wie es sich einstmals wirklich zugetragen hat, nicht unbedingt in Einklang zu bringen ist. Aber ab einem gewissen Punkt im Leben läuft das Leben auch mehr rückwärts als nach vorn. Die Erinnerungen werden mehr, während einem die Zukunft immer kürzer wird, jeden Tag.

Auf solche trüben Gedanken kann man kommen, angestachelt von dem Titel des Albums, auf dem einem Max Müller mit einem Instrumental gleich hilfreich zur Seite springt. Diese „Träumerei“ schwelgt an seinen Keyboards um Clayderman und Kerzenkandelaber. Muss man noch wissen, dass ein in Klammern verstautes „Neurosen“ die „Träumerei“ komplettiert?

Das ist nicht uplifting, sondern zwingt einen erst mal in den Lehnsessel. Zum Nachdenken. Wirklich gemütlich ist es in dem Sessel nicht, also nicht direkt unangenehm, aber wie stets hat die Musik von Müller etwas Quälendes, Unentspanntes, Verstocktes, Zermürbendes. Selbst wenn sie gar nicht mit den Quengelgeräuschen daherkommt, sondern ganz gemütvoll. So wie eine deutsche Heimatstube. Scheues Licht, dunkles Holz. Tischdecken, an denen gezupft wird.

Das kann sogar eine angedeutete Bossa sein, oder es stampft und wankt elektronisch, irgendwie kriegsversehrt und doch nicht fallend. Alles eher roh gezimmert, mit einer dumpfen Wucht. Auch nur mal mit der akustischen Klampfe. Ja, man darf zu „Die Nostalgie …“ auch Liedermacherplatte sagen, sogar mit mancher delirierenden Blödelnummer darunter, und anderswo will sich Müller in seinen Texten in eine seltsame „Heimatmusik“ einfühlen, und fast verzweifelt lehnt sich die Musik selbst dagegen auf. Oder vielleicht ist es auch so, dass sie bereits mitmarschiert, im Stiefelschritt. Uneindeutige Verhältnisse, und deswegen gar nicht unpräzise. Max Müller lehnt sich eben aus dem Fenster weit hinaus, sich umschauend, nach innen beobachtend. Singend: „Es reicht schon lange nicht mehr / es lässt dich einfach gehen / sich am eigenen Leben zu erfreuen / die, die die anderen treten, wenn die Möglichkeit sich ergibt / zuzuschlagen, bevor das jemand anderes tut.“

Das alles ist nicht einmal sonderlich zynisch. Das ist nicht sonderlich verzweifelt. Vielleicht ist das alles auch nur ein Schwarzes Theater. Aber es ist wenigstens mal gesungen worden, das alles.

Eine Platte, die nach einem Wort verlangt, mit dem man vorsichtig sein muss: anrührend. So ist die Platte.

Oder der Kundenhinweis, in aller Kürze: Das ist nicht die Sommerplatte. Die hält länger. Klingt wie: Goldene Zitronen, Knarf Rellöm. Viel mehr aber noch nach Max Müller. THOMAS MAUCH

Max Müller: „Die Nostalgie ist auch nicht mehr das, was sie früher einmal war“ (Angelika Köhlermann/Broken Silence)