Schweiz ist Schwarzbrot

Basler Leckerli oder Basler Läggerli: ein rechteckiges, lebkuchenartiges Gebäck, das zur Zeit des Basler Konzils (1431–1449) kreiert worden sein soll. Während sich dreihundert Kirchenfürsten aus dem ganzen Abendland in Basel aufhielten, versuchten sich Handelsleute und Krämer in ihrem Snackangebot gegenseitig zu übertreffen. Die normalen Lebkuchen erschienen nicht mehr gut genug für die vornehmen fremdländischen Gäste, weshalb sich die Basler Lebkücher im Imbergässlein der Basler Innenstadt etwas ganz besonders Leckeres einfallen ließen: das Basler Leckerli eben. Im subkulturellen Sprachgebrauch werden die typisch rechteckigen Dosiseinheiten des LSD ebenso benannt. Der kürzlich verstorbene Chemiker Albert Hofmann nämlich hatte LSD 1943 in den Labors der Firma Sandoz erfunden – in Basel. Auch die ein internationaler Erfolg. MAB

Der Schweiz mag es in fast allen Bereichen an Entschiedenheit mangeln. Na und? Ist Entschlossenheit etwa eine so wunderbare Tugend? Ein Lob auf das „Ja, aber“

VON TOBI MÜLLER

Es gibt kaum Prunkbauten in der Schweiz, keine großzügigen Boulevards, und die wenigen Wohnungen, deren Raumhöhe die luftigen Höhen Berliner Altbauten erreicht, gehören Versicherungen, Banken und Anwaltskanzleien. Für die entschiedene stadtplanerische Geste und architektonische Größe fehlt es den Städten an Platz. Vor allem aber fehlt es der Schweizer Geschichte an den passenden Bauherren: Monarchien, Diktaturen oder zentralistischen Regierungen.

Dumm gelaufen. Denn Jacques Herzog vom Basler Architekturbüro Herzog & de Meuron sagte unlängst, man könne in autoritären Systemen tatsächlich besser bauen. Schon der Westschweizer Le Corbusier, Legende seiner Zunft, musste seine schönen Sozialsiedlungen in den Pariser Banlieues Beton werden lassen. In dieser Tradition haben Herzog & de Meuron nicht nur die Tate Modern in London und die Allianz Arena in München realisiert, sondern auch das olympische Stadion in Peking gebaut – zusammen mit dem chinesischen Konzeptkünstler Ai Wei-Wei, der sich mittlerweile von dem Projekt distanziert hat, weil er sich nicht für Propagandazwecke hergeben möchte.

Vielleicht waren die Arbeitsbedingungen der chinesischen Bauleute ja gar nicht so viel schlechter als jene der polnischen und russischen Schwarzarbeiter, die den Potsdamer Platz in Berlin hochgezogen haben.

Der „Diskurs in der Enge“, wie das Reden über die geistig limitierte Schweiz seit Paul Nizons gleichnamiger Aufsatzsammlung von 1970 heißt, ist zum Klischee geronnen wie Dürrenmatts Metapher der „Schweiz als Gefängnis“, in dem jeder jeden beobachtet. So richtig falsch ist das nicht, bloß ein bisschen banal: Ja, es ist ein kleines, noch von Sprachen zerteiltes Land, ja, der Brain Pool ist dementsprechend begrenzt, ja, die soziale und mediale Kontrolle relativ stark.

Man kann es, liebe Preußen und liebe Chinesen, auch anders sagen: Der Schweiz mag es an Entschiedenheit in fast allen Bereichen mangeln, aber das Streben nach Grandiosität hat sich wahrlich nicht immer als die gesündeste aller Sehnsüchte erwiesen. Die direkte Demokratie mit ihren vielen Volksabstimmungen, sinnigerweise auch Urnengänge genannt, trägt dagegen jeden Wunsch nach dem Glamour der Tat zu Grabe.

Die Schweiz ist Schwarzbrot: So würde es ein tiefstapelnder Schweizer sagen, der seinen Stolz gern im Gegenteil versteckt, um die glanzlose, aber womöglich demokratische Konsensmaschine zu verteidigen. Die Schweiz ist Hamlet: Das klingt eher nach einem Deutschen, dem nach größeren Vergleichen dürstet, um die Zögerlichkeit der Eidgenossen tragisch zu überhöhen. Recht hätten irgendwie beide. Wenn die Schweiz etwas Heroisches hat, so liegt es im mühsam Alltäglichen. In der Unentschiedenheit als demokratischer Utopie. Hamlets Geist, als Schwarzbrot getarnt.

Am schnellsten greift das Klischee des Zauderns, wenn das Ausland auf das politische System blickt. Im siebenköpfigen Bundesrat regieren die vier stärksten Parteien in einer dauerhaften Ampelkoalition. Dieser Pragmatismus mag mitunter zu Entfremdungen der Bundesräte von ihrer jeweiligen Fraktion führen (und zu ziemlich lauer Rhetorik). Allerdings verhindert die „Zauberformel“ auch den Siegeszug von Mehrheiten, die in einer Mediendemokratie allzu volatil sein können. Bessere Chancen hat so ein demokratischer Urgedanke: der Schutz der Minderheit(en). Dem Telefonvoting gehört noch nicht das letzte Wort.

Damit jetzt nicht zu viel Feierlichkeit aufkommt: Die Schweiz ist, trotz eines Ausländeranteils von über zwanzig Prozent, kein gut gelaunter Migrantenstadl. Kann sein, dass das so kurz vor der EM auch nur politisches Prozac war, als die rechtspopulistische SVP gleich drei Volksabstimmungen verlor, eine davon wieder mal ausländerfeindlich. Entscheidend ist, dass die Blocher-Partei in der Konkordanz entschärft werden kann. Langweilig, ja. Aber notwendig. Der Bau von Türmen und Raketen wird davon in den Hintergrund gedrängt.

Vielleicht hat ein unschweizerisch direkter, etwas blasierter Architekt wie Jacques Herzog recht, wenn er der Eidgenossenschaft mehr Mut zum Machertum wünscht. Denn die schützenswerte Minderheit, das kann auch die künstlerische und intellektuelle Elite sein. Und die hat es in der Tat schwer im Land des mühsam verhandelten Mittelmaßes. Geduldet sind Eliten nur in der Wirtschafts- und Finanzwelt, und selbst da inszenieren sie sich vergleichsweise zurückhaltend. Die Ornamente der Macht wirken in der Schweiz selten exzentrisch oder gar bedrohlich.

Das gilt auch für die Kultur und ihre Leitfiguren. Die berühmtesten Künstler wie Pipilotti Rist oder das Duo Fischli/Weiss sind schräg, lustig und im Hintergrund auch melancholisch gestimmt, doch radikaler Biss und grandiose Gesten gehen ihnen gänzlich ab. Wahrscheinlich ist das sogar ihre Qualität, weil sie sich damit von den klassisch „kritischen“ Künstlern absetzen, deren hohe Temperaturen ja problemlos vom überhitzten Kunstmarkt konsumiert werden können. Die Rolle des Künstlers als Hofkritiker à la Immendorff entspringt nicht umsonst einer aristrokratischen Kultur. Rist und Fischli/Weiss sind immerhin Hofnarren.

Im Fußball nennt man diese Weigerung, klare Positionen zu vertreten, allerdings nur noch Abschlussschwierigkeit. Der Sturm der Schweizer Nati spielt nicht schlecht, aber entschieden wäre anders. Und Coach Köbi Kuhn hat zu lange rumgeschraubt an der Mannschaft, statt einer Aufstellung einen angemessenen Vorlauf auf das Turnier im eigenen Land zu gewähren. Die behutsame Kleinarbeit, die dem Lauf der Dinge die Zeit entgegenstellt und nicht alles gleich definieren will, führt also nicht immer zum besseren Ergebnis. Und wo sich im Lob der Unentschiedenheit der helvetische Heroismus offen zeigen will, sollte man umso mehr aufpassen. Im Kunsthaus Zürich, das alle zehn Jahre eine Übersichtsausstellung über die jüngere Schweizer Kunst veranstaltet, betitelt man die aktuelle Schau „Shifting Identities – (Schweizer) Kunst heute“. Die nationale Klammer im Zusatz zeigt die Vorsicht des Sowohl-als-auch an. Und der eigentliche Titel deutet das Ungreifbare des Eidgenössischen zum postmodernen Allgemeinplatz um: Identitäten und Grenzen sind im Fluss, es geht auch bei uns um Globalisierung und Migration. Man sollte so ein zentrales Thema nicht vorschnell diskreditieren, sagt der Schweizer in mir.

Aber es brauchte dann schon die iranische Künstlerin mit deutschem Pass und Schweizer Wohnsitz, die sagte: „So ein Titel kann einem nur in der Schweiz in den Sinn kommen. Und man braucht erst noch einen Schweizer Pass dazu: Denn für die meisten sind die Grenzen nach wie vor unpassierbar.“ Mein tschechischer Kollege sagte: „Ich bin anderer Meinung!“ Und ich wollte differenzieren. Sagte dann aber nichts. Es wurde ein schöner Abend.

TOBI MÜLLER ist Redaktor bei der Sendung „Kulturplatz“ im Schweizer Fernsehen DRS und freier Kulturjournalist