: Mit der Kippa in die Kantine
Die Joseph-Carlebach-Schule hat ihre Anfangsschwierigkeiten überwunden: Am traditionsreichen Grindelhof setzt die jüdische Ganztagsschule auf ein modernes pädagogisches Konzept
VON ELISABETH WEYDT
Der Uniformierte grüßt freundlich aus seinem kleinen Polizeicontainer. Am Rande des Universitätsviertels, wo die Sonne den Tag in eine einzige Kaffeepause verwandelt hat, wirken der Polizeiposten und der hohe Metallzaun um das erhabene Gebäude seltsam unernst. Eine Beklommenheit stellt sich auch drinnen, im lichtdurchfluteten Gemäuer, nur kurz ein: einmal am Anfang, als Ruben Herzberg mit ruhiger Stimme auf die Gedenktafeln im weiträumigen Treppenaufgang der alten Talmud-Tora-Schule weist: „Im Ersten Weltkrieg sind Lehrer und Schüler unserer Schule als Soldaten gefallen, im Zweiten hat man andere von hier deportiert und umgebracht.“
Umso erfreuter ist der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Hamburg, dass die Joseph-Carlebach-Schule an diesem symbolträchtigen Ort nun die Startschwierigkeiten überwunden hat. Die Zahl der Kinder für das kommende Schuljahr ist von zwölf auf 40 gestiegen und hat damit „die großen Sorgen ausgeräumt“, sagt Herzberg, für den die Schule eine ganz zentrale Einrichtung der Gemeinde darstellt: „Nur dort, wo Juden ihre eigene Identität ausprägen können, gibt es auch jüdisches Leben.“
Noch vor einigen Monaten war aus finanziellen Gründen ungewiss, ob es eine Zukunft für die junge Ganztagsgrundschule geben würde. Jetzt sind alle Bedenken ausgeräumt und auch über die internen Streitereien um die Schule und den Vorstand der Gemeinde will Herzberg sich den ergrauten Kopf mit der runden Brille nun nicht mehr zerbrechen: „Es gab damals einen fliegenden Wechsel im Vorstand, der natürlich nervenaufreibend war.“ Damals heißt, im August vorigen Jahres, als die Joseph-Carlebach-Schule wieder eröffnet wurde, nachdem sie schon einmal zuvor drei Jahre lang bis 2005 bestanden hatte. „Jetzt“, sagt Herzberg, „müssen wir uns auf die Entwicklung dieser Schule hier konzentrieren.“
Dafür hat er im Schulleiter Heinz Hibbeler einen Verbündeten und Vertrauten gefunden. Heute tragen beide sommerliche Hemden. Herzbergs Bäuchlein wird von einer Krawatte geziert, während Hibbeler sportiv kurzärmlig den Flur entlang kommt. Sie sprechen von einem „professionellen Draht“, der sie verbinde und der immer wieder spürbar wird: „Das wollte ich auch schon mit Ihnen besprechen“, sagt dann der eine zum andern, als es darum geht, Kontakte aufzubauen, zur Jugendmusikschule oder dem Thalia-Theater. Herzberg ist selbst Pädagoge, er leitet das Ganztagsgymnasium Klosterschule in St. Georg.
Für Hibbeler, der seit vorigem August maßgeblich an der Konzeptentwicklung der Schule mitwirkt, besteht der besondere Reiz darin, „jetzt die Erfahrungen aus 30 Jahren im pädagogischen Beruf hier einbringen zu können.“ Noch sei das das Team aus zwei staatlichen Lehrern, zwei Sozialpädagogen und einer Religionslehrerin in der Entwicklungsphase. Bisher gibt es eine Vorschul- und eine erste Klasse, und die Kräfte haben nur Teilzeitstellen. „Wir sind auf Zuwachs angelegt“, sagt Herzberg optimistisch.
Die Erstklässler, die gerade in ihrem hellen Klassenzimmer an den Wochenaufgaben sitzen, werden zum nächsten Schuljahr die erste Zweite Klasse der Joseph-Carlebach-Schule bilden. Sie sollen Worte und Bilder einander zuordnen, einfache Rechenaufgaben lösen. Buchstaben der Woche sind das „ü“ und das „ö“. Ein Mädchen mit Zöpfen und quietschorangem Pullover kommt hinter dem Regal hervor, wo sie gemalt hat, und hält der jungen Lehrerin ihr Werk unter die Nase: „Fertig!“ – „Oh, noch lange nicht“, erwidert Sandra Stickan und weist sie auf Fehlendes hin. Sie selbst ist keine Jüdin, habe sich aber schon immer für das Judentum interessiert. Diese Schule sei wichtig, „nach allem, was war“, sagt Stickan. Man dürfe das aber nicht überbewerten: „Das sind ganz normale Kinder.“ Die stürmen nun auf den Pausenhof. „Jetzt bin ich der Spion!“, ruft Colin, der zuvor immer wieder ermahnt werden musste, und rennt befreit nach draußen.
„Eine Gemeinde, die ihre Kinder nicht ernst nimmt, wird bald ohne Leben sein“, sagt Herzberg. Er sieht den Aufbau der Schule als wichtigen Auftrag, für die Zukunft der jüdischen Gemeinde zu sorgen. In Hamburg gab es bis zum „Dritten Reich“ ein renommiertes jüdisches Schulwesen, an dem auch der Oberrabbiner und Reformpädagoge Joseph Carlebach mitwirkte. „70 Jahre danach sind wir nun dabei, das wieder aufzubauen“, sagt Herzberg mit einer Stimme, in der die Trauer über das Untergegangene ebenso mitschwingt wie die Freude über das Entstehende. Das explizit Jüdische im Neuen wird interdisziplinär und zusätzlich zum Lehrplan vermittelt: Jüdische Feste werden vorbereitet und gefeiert, Hebräisch wird unterrichtet, jüdische Kultur und Religion werden gelehrt. Das Mittagessen ist immer koscher: Heute gibt es Fischfrikadelle, Couscous und Salat. Bei Tisch tragen die Jungs eine Kippa.
Auch Hibbeler sagt, er finde es wichtig, dass es in Hamburg wieder ein blühendes jüdisches Leben gebe. Viel lieber spricht er aber über das pädagogische Konzept. Dann blitzt die Begeisterung aus seinen Augen. „Wir sind eine bewegte Schule“, sagt er: Der Schulalltag ist rhythmisiert, es gibt keinen Frontalunterricht, dafür fächerübergreifendes, projektorientiertes Lernen, Fremdsprachen schon in der Vorschule. Die Schule geht nach draußen und holt das Draußen rein – zum Beispiel das Polizeikommissariat eine Straße weiter. Aber Hibbeler ist nicht von blindem Aktionismus getrieben: „Gerade bei der Erziehung darf man nicht experimentieren“, sagt er. Und muss doch zumindest improvisieren, denn die Mittel sind knapp.
„Auch wenn die Schule sich weiter entwickelt, bleibt immer die Frage der Finanzierbarkeit“, sagt auch Herzberg: Die Jüdische Gemeinde bestehe hauptsächlich aus armen und alten Mitgliedern. Neben Mitteln der Gemeinde erhält die Schule Zuschüsse von der Schulbehörde – und die Gebühren der Eltern. Der Höchstsatz beläuft sich dabei auf 300 Euro monatlich, wobei Gemeindemitglieder nach Einkommen gestaffelt zahlen. Rund ein Drittel der Plätze ist für nichtjüdische Schüler offen.
Die beiden Pädagogen sind zuversichtlich. „Wir müssen uns viel einfallen lassen“, sagt Hibbeler, „Geduld haben und Klinken putzen.“ Für den Sportunterricht will er andere Schulen um die Mitnutzung ihrer Sporthallen bitten und für Spielgeräte Sponsoren suchen. Selbst eine Austauschbeziehung mit Israel ist ein Ziel – wenn auch in der Ferne. „Das werden wir auch noch hinkriegen“, sagt Herzberg, „die Kinder müssen nur größer werden.“