Opferschutz statt Schutzhaft

In der taz hatte der Jugendrechtsexperte Christian Bernzen gefordert, bedrohte Mädchen auch gegen ihren Willen in Obhut zu nehmen. Drei AnwältInnen widersprechen: Damit würden die Mädchen für die Gewalt gegen sie verantwortlich gemacht

Von MECHTHILD GARWEG
, ULRIKE HORSTMANN
UND ÜNAL ZERAN

Mit Morsal O. wurde erneut in Deutschland eine junge Frau getötet, mutmaßlich weil sie nicht den tradierten Vorstellungen ihrer Familie entsprach. Jetzt fordern Jugendrechtsexperten und ein Teil der Medien Schutzhaft für die betroffenen Mädchen und Frauen. So genannte Ehrenmorde sind jedoch ein Phänomen traditionell patriarchalischer Gesellschaften, denen mit Prävention und Opferschutzarbeit begegnet werden muss.

Als „Ehrenmord“ wird die Tötung von Mädchen und Frauen bezeichnet, wenn ein Kreis von Familienangehörigen in die Planung und Ausführung der Tötung einbezogen ist. Eine UN-Studie aus dem Jahre 2005 registrierte weltweit jährlich 5.000 Opfer – übrigens nicht nur in islamisch geprägten Kontexten, sondern auch in Ländern wie Brasilien, Ecuador, Indien, Griechenland und Italien.

In der deutschen Öffentlichkeit wird diskutiert, wie Tötungen von jungen Frauen wie Morsal O. verhindert werden können. Unter anderem werden die Ausbürgerung und Abschiebung der Familien gefordert. Die Vorstellung, sich des Problems durch Verschiebung ins Ausland zu entledigen, zeigt, dass sich Deutschland einer Auseinandersetzung mit diesem globalen Problem vor allem dann nicht stellen will, wenn es im eigenen Land geschieht. Da „Ehrenmorde“ ein Phänomen von traditionell patriarchalischen Gesellschaften sind, kann man ihnen auch nur durch eine gesellschaftliche Reaktion, insbesondere durch konsequente staatliche Ächtung entgegentreten.

Diese Differenzierung ist zugleich richtungsweisend für die Präventions- und Opferschutzarbeit: Der Verein Kardelen etwa hilft seit Anfang der 90er Jahre in Hamburg Mädchen und jungen Frauen mit Migrationshintergrund, die Opfer von sexuellen Übergriffen, Zwangsheirat oder physischer und psychischer Gewalt geworden sind. Im Fokus der Unterstützungsarbeit stehen eine gute Ausbildung mit dem Ziel finanzieller Unabhängigkeit sowie medizinische und interkulturell-psychologische Betreuung. Kardelen bietet bis zu neun jungen Frauen, die aus dem familiären Umfeld geflohen sind, Schutz und Unterstützung in einer anonymen Wohneinrichtung. Die Betreuerinnen sind mit den interkulturellen Konfliktlagen und Fragestellungen ihrer Klientel vertraut.

Das deutsche Modell – ein Leben auf einem Bauernhof mit Schweinen und Pferden – mag Kinder und Jugendliche mit familiären Defiziten erreichen. Doch es wird den Ängsten und Sorgen junger Frauen wie Morsal O. nicht gerecht, wenn sie sich von ihren Familien loslösen müssen und wollen. Opfer derartiger patriarchalischer Gewalt benötigen einen Schutzraum, in dem die eigenständige persönliche Entwicklung zur Unabhängigkeit von der Familie unterstützt wird. Die Einbeziehung des interkulturellen Hintergrundes, aus dem diese Mädchen und jungen Frauen kommen, ist dabei unentbehrlich. Deshalb sind Einrichtungen wie Lale, I.bera und Kardelen so wichtig.

Die Forderung des Jugendrechtsexperten Christian Bernzen, Mädchen und junge Frauen bei festgestellter Bedrohung durch ihre patriarchalisch geprägte Familie notfalls auch gegen ihren Willen wegzusperren, ist falsch. Dies bedeutet im Hinblick auf einen dauerhaften Schutz ausgerechnet für das Opfer patriarchaler Gewalt unbefristete Schutzhaft. Weil die Gesellschaft dem Problem mit Ohnmacht begegnet, werden die Opfer ihrer individuellen Menschen- und Freiheitsrechte beraubt. Ihnen wird in der Konsequenz die Verantwortung für den Angriff zugeschrieben – etwas, was ihnen schon durch ihre Familien vermittelt wurde. Die Reaktion muss vielmehr die konsequente gesellschaftliche Ächtung solcher „Ehrenmorde“ sein.

In Deutschland muss das Jugendhilferecht den veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen angepasst werden. Dies kann nur durch die interkulturelle Öffnung im Umgang mit diesem gesellschaftlichen Problem geschehen. Vermeintlich „kulturelle“ Motive übergriffiger Familienmitglieder dürfen in den Behörden nicht auf Verständnis stoßen, erst recht nicht, wenn das Leben von Mädchen und jungen Frauen in Gefahr ist. Eine sinnvolle und zielgerichtete Unterstützung muss einerseits der strikte Opferschutz und andererseits Präventionsarbeit mit den möglichen Tätern sein. Dies ist nur mit einer deutlichen Verstärkung der personellen Ausstattung und inhaltlichen Ausrichtung der Jugendhilfe möglich.

In Hamburg macht sich aktuell der finanzielle Kahlschlag im sozialen Bereich der letzten Jahre bei den Migranten- und Frauenverbänden sowie der Jugendhilfe bemerkbar. Ex-Sozialsenatorin Schnieber-Jastram begründete die Kürzungen seinerzeit damit, es gäbe keinen Bedarf, Anlaufstellen für Hilfesuchende seien die Behörden. Die nach dem Tod von Morsal O. durch den schwarz-grünen Senat angekündigte Aufstockung des Personals ist ein zaghafter erster Schritt in die richtige Richtung.

Zur Effektivierung und Abstimmung des Handelns im Falle von Gewalt gegen Mädchen muss die Zuständigkeit mit besonders qualifiziertem und geschultem Personal an einer Stelle gebündelt werden. In familien- und strafrechtlichen Verfahren müssen den Opfern von Anfang an unabhängige Verfahrensbeistände zur Seite gestellt werden. Im Einzelfall muss auch das Zeugenschutzprogramm greifen. Denn in den meisten Fällen gibt es – wie bei Morsal O. – eine Vielzahl von gewalttätigen Angriffen, bevor es schließlich zur Tötung kommt.Die AutorInnen gehören einer Hamburger Anwaltskanzlei an