Rauchverbot im Schneesturm

Jeder Mensch ist illegal, zumindest potenziell in dem Stück „Funkenflug“ von Tena Štivičić. Die Kroatin gehört zu den Entdeckungen des Festivals „Neue Stücke aus Europa“

Schnell ist es bei der Biennale „Neue Stücke aus Europa“ Routine, am Eingang Kopfhörer samt Sender einzusammeln. Synchron werden Inszenierungen aus Polen, Kroatien, Island übersetzt, insgesamt sind 29 Stücke aus 24 Ländern zu Gast. Dieses Jahr kooperiert das Staatstheater Wiesbaden, an das der Intendant Manfred Beilharz die Biennale vor einige Jahren mitbrachte, erstmals mit dem in Mainz. 1992 von Manfred Beilharz und Tankred Dorst in Bonn begründet, ist das Festival für zeitgenössische Dramatik das größte seiner Art.

Zur Eröffnung war in diesem Jahr die junge Autorin Tena Štivičić mit ihrem Stück „Funkenflug“ eingeladen. Die 1977 in Zagreb geborene Autorin lebt heute in London, wo sie am Goldsmiths College Szenisches Schreiben studierte. Schon 2002 war sie bei der Biennale zu Gast, als Teilnehmerin im Workshop der serbischen Autorin Biljana Srbljanović – die ihrerseits ebenfalls durch das Festival in Deutschland bekannt wurde.

„Kroatien war derart isoliert“, erzählt Štivičić, „da war es sehr wichtig für mich, herauszukommen und in Dialog mit anderen Autoren zu treten.“ Geschrieben hat sie immer schon, „ich bin einer dieser Freaks“. Energisch erklärt sie, sie sei nicht mit allem einverstanden, was aus ihren Stücken gemacht werde, „aber man muss sie an einem gewissen Punkt loslassen und vielleicht mal eine Weile trauern.“ Mit der „Funkenflug“-Uraufführung von Janusz Kica am Jungen Theater Zagreb aber ist sie d’accord: „Sie trifft den Nagel auf den Kopf.“

Kica, die Bühnenbildnerin Slavica Radović und das hervorragende Ensemble zeigen eine präzise gearbeitete, berührende Inszenierung mit fast cineastischen Momenten. Ein Schneesturm hat 14 Personen auf einem Flughafen im Nirgendwo festgesetzt. Ehemalige Geliebte treffen sich wieder, Alte und Junge stolpern auf der Rolltreppe übereinander, Pässe werden kassiert. Über drei Stunden kostet Kica diese Stillstandssituation aus, in der sich verschiebende, halbtransparente Wände immer neue Räume eröffnen.

Štivičić möchte schreibend die menschliche Natur erkunden, und dass sie diese nie ganz zu fassen bekommt, treibt sie von einem Text zum nächsten. „Ich liebe alle meine Figuren und ich versuche sie nicht zu bewerten. Ich habe ein grundsätzliches Vertrauen in Humanität.“ Dieses Grundvertrauen merkt man den ausnahmslos seltsamen, aber liebenswerten Figuren des „Funkenflugs“ an. Sie schreien Zeter und Mordio oder tyrannisieren einander, und an den zwischenzeitlich aufscheinenden Happy Ends schrammen sie ziemlich präzise vorbei.

Für Štivičić ist der Transitraum des Flughafens eine Metapher für das moderne Leben: „Es gibt unzählige Möglichkeiten, aber ebenso viele Verbote, die Sorge um öffentliche Sicherheit wird zur Obsession.“ Sie würde sich selbst nicht als „politische Autorin“ bezeichnen, aber die Umstände sind nun mal so: „Man kann heute nicht schreiben, ohne in einer Weise politisch zu sein, denn die Politik beeinflusst uns bis in unsere intimen Beziehungen hinein.“ So wird aus dem Rauchverbot im „Funkenflug“ herrlicher Slapstick, wenn sich Clara (Doris Šarić-Kuku- Ijica) reflexhaft immer wieder eine Zigarette anzünden möchte, just in diesem Moment ein Sicherheitsbeamter vorbeikommt und die Ertappte schnell das Feuerzeug herumschwenkt. Im Kontroll- und Transferraum Flughafen wird jede Bewegung überprüft: Jeder Mensch ist da illegal, zumindest potenziell.

Neben der großen Einsamkeit herrscht so eine stille Hysterie vor, die in Begegnungen vorübergehend Ruhe findet: Etwa von dem alten Herren Oliver und der jungen Russin Olga. Beide wollen nach Amerika, wo Olivers Sohn lebt und Olga ihr Glück sucht. Sie ist die großherzige Sonnenscheinfigur des Stücks, sie strahlt jene Zuversicht des Aufbruchs aus, die den anderen Reiseroutiniers längst abhanden gekommen ist. Für sie ist die Fremde noch hoffnungsträchtig.

In der nächsten Spielzeit wird das Staatstheater Wiesbaden – ganz ohne den unfreiwilligen Verfremdungseffekt der Simultanübersetzung – die deutsche Erstaufführung von Štivičić’ Stück zeigen. Und auch sonst ist die junge europäische Autorin auf einem guten Weg, zuletzt wurde ihr Stück „Fragile!“ beim Heidelberger Stückemarkt mit dem Europäischen Autorenpreis und mit dem Innovationspreis ausgezeichnet und „Funkenflug“ im Juniheft von Theater heute veröffentlicht.

ESTHER BOLDT