: Privat: abgeschafft
Mit Schwedens Vorhaben zur Telekommunikationsüberwachung durch den Geheimdienst wird jeder Bürger mit Telefon- oder Internetanschluss prinzipiell verdächtig
AUS STOCKHOLM REINHARD WOLFF
Orwells Überwachungsstaat in Schweden. Das könnte mit dem heutigen Datum Realität werden. Denn das Parlament in Stockholm wird vermutlich ein Gesetz verabschieden, das nach Meinung von KritikerInnen Schweden dieser Schreckensvision unangenehm nahe bringen wird. Demnach erhält der militärische Geheimdienst, die „Försvarets Radioanstalt“ (FRA), den Regierungsauftrag, alle kabelgebundene Kommunikation zu überwachen. Also mitzuhören, was am Telefon oder Handy gesagt wird, alle E-Mails, SMS und jeden Verkehr über das Web zu überwachen, zu speichern und zu analysieren. Wohlgemerkt nicht nur die Verbindungsdaten, welche die Provider schon jetzt ein Jahr speichern müssen. Auch die Inhalte.
Es bedarf dazu keines richterlichen Beschlusses, es gibt keine nachträgliche gerichtliche Kontrolle, irgendwelche Verdachtsmomente für eine mögliche Straftat sind nicht erforderlich: Jeder ist erst grundsätzlich verdächtig. „Der Vorschlag stellt einen Eingriff in die persönliche Integrität dar, welche international beispiellos ist“, konstatierte sogar das Justizministerium in einer Stellungnahme. Selbst die Oberste Polizeibehörde („Rikspolisstyrelsen“) lehnt derart weitgehende Überwachungsbefugnisse ab und spricht von „einem Aufsehen erregenden Mangel an Rücksichtnahme auf den Schutz der Integrität, wie sie durch unsere Staatsform und die Europakonvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten garantiert wird“. Und auch der Verfassungsschutz SÄPO kritisiert die „massive Telefonüberwachung“, die alle bisherigen derartigen Maßnahmen und Vorschläge „weit übertrifft“.
Wie kann es dazu kommen? Als das Überwachungsgesetz vor einem Jahr von der links-grünen Opposition bereits einmal im Gesetzgebungsprozess blockiert worden war, interessierten sich nur wenige Insider dafür. Die SchwedInnen lebten sehr lange in einer ebenso homogenen wie offenen Gesellschaft. In der ein weitgehendes Öffentlichkeitsprinzip herrscht und es beispielsweise selbstverständlich ist, dass die Steuererklärungen aller MitbürgerInnen oder der Briefwechsel jeder Behörde öffentlich sind und von jedem ohne Begründung eingesehen werden kann. Über Jahrzehnte konnte sich in einer breiten Mehrheit ein Vertrauen in die Politik festigen. Dass gleichzeitig eine umfassende Überwachung vor allem linker Gruppen stattfand, wurde von dieser Mehrheit und in der Medienöffentlichkeit als „notwendig“ akzeptiert. Auch in der Diskussion um das „Orwell-Gesetz“ reichte den meisten der Hinweis auf Sicherheitserfordernisse.
Das Gesetz wird als „Anpassung“ der Befugnisse der militärischen Lauscher der FRA an die technische Entwicklung verteidigt. Da heute 98 Prozent der Kommunikation über Kabel verlaufe, müsse sie auch diese Befugnis erhalten, um „Gefahr von außen“ rechtzeitig erkennen zu können.
Erst durch Blogs wurde in Schweden ein Bewusstsein dafür geschaffen, dass es in diesen IT-Zeiten nicht viel bedeutet, wenn der Geheimdienst FRA formal nur beim grenzüberschreitenden Verkehr mitlauschen und -lesen darf. Sondern dass im Prinzip jede Mail, jede SMS geöffnet werden kann. Selbst wenn Absender und Empfänger von E-Mails in Schweden sitzen, handelt es sich meist um grenzüberschreitenden Verkehr. Viele der E-Mail-Server stehen im Ausland oder der Internetverkehr wird über ausländische IT-Knoten abgewickelt. Sogar der eigene IT-Experte der Regierung, Patrik Fältström, konstatiert, eine Unterscheidung zwischen innerschwedischem und grenzüberschreitendem IT-Verkehr „ist meiner Meinung nach in der Praxis unmöglich“.
Von JournalistInnen, die um den Schutz ihrer Quellen fürchten, bis zu RechtsanwältInnen, die meinen, die Gespräche mit ihren KlientInnen könnten dann nicht mehr vertraulich sein – alle Proteste haben bislang nichts genutzt. Am Wochenende kam nun den KritikerInnen ein Skandal zu Hilfe. Offenbar ein Insider hat der Datenschutzbehörde gesteckt, dass die FRA schon in der Vergangenheit ihre Befugnisse weit überschritten hat: So hat sie seit den Neunzigerjahren Informationen über mehr als 100 Personen mit Kontakten nach Russland gesammelt, obwohl es keinerlei Verdachtsmomente gab. Nun sprechen einige Koalitionsabgeordnete von „Bauchschmerzen“. Stimmen nur vier gegen die Regierungslinie, könnten sie das Gesetz kippen.
Kommt das „Orwell-Gesetz“ trotz allen Widerstands durch, bleibt wohl nur der Weg zum europäischen Menschenrechtsgerichtshof. Ein Verfassungsgericht kennt Schweden nicht.