berliner szenen Geschlechterstudien

Historische Gynäkologie

Schon das Wartezimmer gibt es nicht. Die Sitzgelegenheiten für die Patienten stehen vor der Moabiter Praxis im hallenden Treppenhaus. Keine staubige Yuccapalme dämpft die Schritte und das Rattern des Fahrstuhls. Einen Termin hatte man nicht ausmachen können, stattdessen mahnt ein handgeschriebenes Schild, bei Ankunft zu klingeln. Ich klingle. Nichts passiert. Freundlich nicken mir die Wartenden zu, als ich mich setze. Dann werden Türen auf- und zugeschlossen. Eine Patientin geht. Die nächste verschwindet in der Praxis.

Praxis? Ein Herr mit ausgefranstem, nikotinfarbenem Bart bittet mich in einen kleinen Raum. Hier tut eine elektrische Schreibmaschine die Arbeit des Computers. Mit den Zeigefingern erst zielend, dann tippend füllt er die Patientenkartei. Mein Gynäkologe ist Arzt, Sprechstundenhilfe und Arzthelferin in einer Person. Gewissenhaft dreht er hinter uns den Schlüssel im Schloss. Dann schließt er die Tür zum spartanischen Untersuchungsraum auf und, als wir eingetreten sind, wieder zu. Drinnen steht Tabakdunst. Ein Tisch mit Marx-Büste (oder Freud?). Ein gynäkologischer Stuhl.

Fertig mit der Untersuchung, lässt er die Latexhandschuhe schnalzen und steckt sich eine Zigarette an. Filterlos. Ich kann nicht verhindern, vorwurfsvoll zu gucken. „Wir sind doch fertig?“, kontert er prompt. Um mich versöhnlich zu stimmen, fügt er, während ich in einem Jeansbein balanciere, hinzu: „Was studieren Sie denn?“ Unglücklich mit der Antwort sage ich: „Gender Studies, Geschlechterstudien.“ „Geschlechterstudien“, der Arzt zwinkert mir erfreut zu: „Das habe ich auch studiert. Aber nur für ein Geschlecht.“ Darauf drückt er mir eine Monatsration Antibabypillen in die Hand. „Gratis“, sagt er. SONJA VOGEL