: Jenseits des Spektakulären
Erika Sulzer-Kleinemeier hat seit den 60er-Jahren politisch-historische Ereignisse wie auch Alltagssituationen fotografiert. Bei ihr kann man sorgsam die eigene Geschichte studieren
VON RENÉE ZUCKER
Blättert man den Band oberflächlich durch, könnte man Gefahr laufen, ihn enttäuscht wegzulegen. Hier sind keine künstlerisch raffinierten, den Betrachter sekundenschnell in den Bann ziehenden Bilder zu sehen, die einen vom Sujet her zwingend beeindrucken. Nein, hier kann man sorgsam die eigene Geschichte studieren. Sie wird sowohl in den Bildern wie den ungemein sympathischen Kommentaren der Fotografin wieder lebendig.
Vielleicht ist das der Unterschied zu künstlerischen Hochglanzfotografen – hier ist Leben und Alltag, manchmal komisch, manchmal schmerzhaft, aber immer wahrhaftig zu sehen. Also das, was man sich von einer Pressefotografin wünscht, die nicht nur beim Anblick des Spektakulären zum richtigen Zeitpunkt auf den Auslöser drückt, sondern die Bilder reflektiert, die sie sieht.
Sulzer-Kleinemeier hat sowohl politisch-historische Ereignisse wie banale Parteitagssituationen abgebildet. Sie war in Fabriken, Büros, Kinderläden, Flughäfen und immer wieder auf der Straße – ob bei Demos oder beim Einkaufen, oder einfach auf der Straße, wie auf einem meiner Lieblingsbilder. Ohne den dazugehörigen Text wirkt es nur wie aus der Verkehrserziehungsfernsehserie „Der siebte Sinn“: Zwei Kinder mit Tornistern auf dem Rücken wollen über die Straße und stehen plötzlich vor einem mit herannahenden Auto mit aufgeblendeten Scheinwerfern.
Tatsächlich war dies ein gestelltes Bild , weil die Mutter Sulzer-Kleinemeier nicht wirklich darauf warten wollte, bis sie sieht, wie Kinder sich in Gefahr begeben. Also mussten, wie öfter mal in Journalistenfamilien, Mann und Kinder herhalten, als eine Wochenzeitung ganz schnell mal ein Foto zum Thema „Kinder im Verkehr“ brauchte. Der Mann setzt sich in den Familien-R4 und fährt ganz langsam auf die Kinder zu, die über die Straße laufen sollen. Sieht ganz echt aus.
Dokumentierte Sulzer-Kleinemeier in den Sechziger- und Siebzigerjahren die antiautoritäre und in den Achtzigern die Friedensbewegung, sucht sie in den Neunzigern Spuren jüdischen Lebens in der Pfalz. Den Bildern der Wiedervereinigung scheint sie hingegen nicht so sehr viel abgewonnen zu haben – sie bleibt bei den fortwährenden politischen Auseinandersetzungen und den Protagonisten des Westens. Frankfurt und die Pfalz (ihre jetzige Heimat) waren zu entfernt vom neuen Großdeutschland.
Die Aufnahmen auf den Seiten 52 und 53 waren für mich die eindrücklichsten. Zwei Bilder eines Ereignisses: Am 31. Januar 1969 wurde das Institut für Sozialforschung in Frankfurt besetzt. Die Studenten wollten mit Adorno und den anderen Professoren darüber diskutieren, was mit ausgesperrten Studenten passieren sollte. Die Professoren riefen die Polizei. Auf den Bildern sieht man einen beunruhigten Adorno und seinen Doktoranden, den ein Jahr später tödlich verunglückten Hans-Jürgen Krahl in scheinbar lässiger Pose, aber auf beiden Bildern verrät seine Handhaltung die Anspannung.
Was heutzutage nicht mehr so eindeutig zu unterscheiden ist, sieht man auf diesen Fotos aus den Sechziger-, Siebziger- und sogar noch in den Achtzigerjahren sehr genau: Die Gesichter des Establishments sind andere als die des normalen Bürgers, ob er zur aufbegehrenden Jugend oder zur Klasse der einlaufenden Gastarbeiter gehörte. Es war die Zeit, in der sich der Juso-Vorsitzende Gerhard Schröder und der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger noch fettige Haare und einen liederlichen Schnitt gönnten und sich der Spiegel-Chefredakteur Günter Gaus mit hängender Fluppe im Mund und Füßen auf dem Schreibtisch unter dem Plakat einer barbusigen Uschi Obermaier fotografieren ließ.
Aber es waren auch die Tage, als sich generationenübergreifender Protest in der Friedensbewegung sammelte, wie die heute fast rührend anmutenden Fotos von der neunzigjährigen Raucherin bei einem Friedenskongress und dem älteren, händchenhaltenden Ehepaar mit Klappstuhl und Aktentasche bei einer Demo im Wald vor dem Pershing-Depot in Mutlangen zeigen.
Es ist ein seltsam anregendes Bilderbuch, das noch mal zur Überprüfung der eigenen Vergangenheit einlädt und dessen eindrückliche Wahrheiten sich eher langsam erschließen.
Erika Sulzer-Kleinemeier: „Fotografien 1967 bis 2007“, Stroemfeld Verlag, Frankfurt am Main/Zürich 2008, 204 Seiten, 28 Euro