Der viertärmste Mann

Lästern bei Lidl

Ein Lidl-Einkauf ist anstrengend: enge Gänge, durch die man kaum durchkommt; gestresste Leute, die ihre schlechte Laune aneinander auslassen; das schlechte Gewissen, diese Hölle des Einzelhandels betreten zu haben. Um das Gewissen zu beruhigen, bemühe ich mich dann, besonders freundlich zu den geknechteten Beschäftigten zu sein: keine blöden Fragen zu stellen, schnell den Weg für Einsortierer freizumachen, ein aufmunterndes Wort zu finden.

An diesem Samstagvormittag, in einem vollen Lidl-Markt am östlichen Berliner Stadtrand, sollte meine demonstrative Freundlichkeit in einen Akt verbaler Aufwiegelei umschlagen. Kaum hatte ich an der Kasse alle Waren auf das Band ausgeladen und dem Kassierer „Hallo“ gesagt, erklärte ich meinem zweieinhalbjährigen Sohn, der im Einkaufswagen saß, warum plötzlich Hektik aufkam – so wie ich ihm zuvor die Bezeichnungen verschiedener Lebensmittel genannt hatte. „Hier muss jetzt alles sehr, sehr schnell gehen“, sagte ich laut und weithin vernehmbar, „damit der Besitzer des Ladens noch mehr Geld machen kann. Der hat’s nämlich nötig, weil der so arm ist.“

Der Kassierer schaute kurz auf, musterte mich und meinen Sohn und kam offenbar zu dem Schluss, dass ich kein Lidl-Spitzel, ein sogenannter Testkäufer, sei. „Der ist ja auch nur der viertärmste Mann in Deutschland“, sagte er lachend und zog die Waren über den Scanner. Die Waren wieder in den Einkaufswagen verstauend, tauchte für mich ein neues Problem auf: Sollte ich alles ganz langsam machen, um ein Körnchen Sand ins Lidl-Getriebe zu streuen; oder sollte ich mich damit beeilen, damit der Kassierer seine Vorgabe erfüllen könne?

RICHARD ROTHER