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Archiv-Artikel

„Politiker sollten sich Sorgen machen“

Idee gut, Umsetzung nicht: Deutsche Demokratie hat ein Gerechtigkeitsproblem, sagt Politikforscher Bernhard Weßels

BERNHARD WESSELS, 52, ist Politikwissenschaftler und Mitarbeiter der Abteilung „Demokratie“ am Wissenschaftszentrum Berlin.

taz: Herr Weßels, laut einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung findet ein Drittel der Deutschen, Demokratie könne die Probleme in Deutschland nicht lösen. Müssen wir uns Sorgen machen?

Bernhard Weßels: Um die Demokratie eher nicht. Aber die Politiker sollten sich Sorgen machen. Denn die Entwicklung, dass Parteien nicht mehr zugetraut wird, die Probleme zu lösen, beobachten wir schon seit einigen Jahren. Dass sich das irgendwann auf das Vertrauen der Bürger in die Demokratie durchschlägt, ist nicht weiter verwunderlich. Die Frage ist nur: Sind die Bürger unzufrieden damit, wie die Demokratie momentan funktioniert – oder lehnen sie die Demokratie insgesamt als Staatsform ab.

Und Letzteres befürchten Sie nicht?

Die deutliche Mehrheit der Bürger will die Demokratie nicht abschaffen. Mehrparteiensystem, Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit – solche Kernbestandteile der Demokratie lehnt nur eine Minderheit ab.

Also alles Alarmismus?

Das würde ich so nicht sagen. Denn kritisch wird es, wenn die Menschen über Jahre hinweg die Erfahrung machen, dass die Demokratie nicht mehr leistungsfähig ist. An diesem Punkt sind wir noch nicht und wir werden es hoffentlich nie sein. Wann aber die Entwicklung in eine Ablehnung der Demokratie an sich umschlägt, lässt sich nicht vorhersagen.

Die Ebert-Stiftung führt den Demokratieverdruss unter anderem auf ein weit verbreitetes Gefühl der Benachteiligung zurück. Haben die Sozialreformen der vergangenen Jahre der Demokratie geschadet?

Die Politik hat den Bürgern das Gefühl gegeben, ungerecht behandelt zu werden. Ob das nun bei den jüngsten Steuerreformen war, die nach Ansicht der Menschen zu Lasten der kleinen Leute gingen, oder bei den Hartz-Reformen. Wir beobachten in Umfragen schon seit Anfang der Neunzigerjahre einen zunehmenden Anteil von Menschen, die sagen, dass sie weniger als ihren gerechten Anteil vom Wohlstand erhalten. In Ostdeutschland sagen das inzwischen sogar zwei Drittel. Das ist bedenklich. Denn hier hätte die Politik ja die Möglichkeiten, über Umverteilungsmaßnahmen oder Sozialleistungen mehr Gerechtigkeit herzustellen.

Deutschland galt lange als Schönwetterdemokratie, die ihre Unterstützung aus dem Wohlstand zog, den sie erzeugte. Seit einiger Zeit sehen Politikwissenschaftler die deutsche Demokratie so gefestigt, dass die Bürger auch in schweren Zeiten von ihr überzeugt sind. Stimmt das Urteil doch nicht?

Vertrauensfrage

Laut einer Studie im Auftrag der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung, die am Montag veröffentlicht wurde, schwindet das Vertrauen in die Demokratie: 22 Prozent der Befragten finden, dass die Gesellschaftsordnung in Deutschland nicht verteidigenswert sei. Unter Arbeitslosen und unter Befragten aus Hartz-IV-Haushalten ist mehr als jeder Zweite dieser Auffassung. Insgesamt ist jeder Dritte der Meinung, dass die Demokratie die Probleme in Deutschland nicht lösen kann. Unter Anhängern rechtsextremer Parteien stimmen 75 Prozent dieser Aussage zu, unter Anhängern der Linkspartei sind es 43 Prozent. WOS

Wie gesagt, es gibt keine Hinweise darauf, dass die Demokratie als Staatsform abgelehnt wird. Was nachlässt, ist das Vertrauen in das Funktionieren der Demokratie. Das ist aber schlimm genug. Denn Deutschland lag in Untersuchungen lange mit an der Spitze der europäischen Nationen, was die Zufriedenheit mit der Funktionsweise der Demokratie anbelangt. Inzwischen sind wir hier unter den europäischen Durchschnitt gefallen.

Warum?

Die Bürger sind nicht zufrieden und können es angesichts der aktuellen Entwicklungen auch nicht sein. Denn der kleine Aufschwung mit einem kleinen Rückgang der Arbeitslosigkeit scheint ja nicht nachhaltig zu sein. Der Eindruck, der bei den Bürgern seit Jahren entsteht, ist: die Politik kann nicht helfen. Oder sie tut es zumindest nicht. INTERVIEW: WOLF SCHMIDT