: Geschichten der Ausgrenzung
Jeder Deutschtürke fühlt sich mit der Geschichte der Juden in Deutschland verbunden. Wenn Faruk Sen wegen seines missglückten Vergleichs jetzt gehen soll, ist das absurd
Warum nahm der sogenannte Fettmilch-Aufstand im Frankfurt des 17. Jahrhunderts eine judenfeindliche Form an, während sich, ein Jahrhundert später, der „Aufstand des Patrona Halil“ eine frauenfeindliche Stoßrichtung bekam? Diese Frage wirft der Kulturanthropologe Werner Schiffauer in einem seiner Essays („Fremde in der Stadt, 1997“) auf. In beiden Ländern rebellierten Bürger gegen ähnliche Missstände – hier gegen die Allmacht der Patrizier, dort gegen die des Sultans; in beiden Fällen bildeten wirtschaftlicher Niedergang, gnadenlose Steuern und soziale Umbrüche den Hintergrund. Doch in Frankfurt stürmten die Bürger die Judengasse und vertrieben die „Wucherer“ und „Blutsauger“ aus ihrer Stadt, bevor sie eine Demokratisierung durchsetzen. In Istanbul dagegen wurde der Großwesir geköpft, der Sultan ausgetauscht und wurden die Parkanlagen am Goldenen Horn zerstört, in denen die Frauen freizügig geschaukelt und sich vergnügt hatten. Fazit: Wenn dort die Juden und hier die Frauen unsichtbar sind, kehrt vorerst wieder Ruhe ein.
Vielleicht findet sich in dieser Geschichte nicht nur die Erklärung für die Entlassung des Direktors des Zentrums für Türkeistudien, Faruk Sen, sondern auch für das, was in der Türkei gerade vor sich geht. In Westeuropa ist die Stadt nach Richard Sennett der Ort, wo sich Fremde einander begegnen. Die sozialen Regeln sind bekannt, und in der Theorie kann sich jeder Neuankömmling diese aneignen, um nach einer gewissen Zeit dazuzugehören. Nicht so in der muslimischen Kultur: Die Straße ist ein verwerflicher Ort. Was zählt, ist die Familie, die Moral, und zwar vor allem die der Frauen, die diese Ordnung tragen müssen. Die Regeln sind vielschichtig und diffus, basieren auf Religion und jahrhundertealten Traditionen. Fremde, jüdische oder christliche, können sie nicht einfach erlernen und dazugehören.
Um diese Themen geht es auch bei der Affäre um Faruk Sen. Der Absolvent der Deutschen Schule Istanbul steht seit seinem 11. Lebensjahr „unter deutschem Einfluss“ und fungierte als Vermittler zwischen zwei Seiten, die ihm beide nicht vertrauten. In einem Zeitungsartikel in der Türkei nahm er einen Juden in Schutz, dafür wird er jetzt in Deutschland ausgegrenzt. Worüber ist er gestolpert? Ihm wird sein Vergleich der Türken in Europa mit den Juden vor dem Zweiten Weltkrieg vorgeworfen – und dass er sowieso immer mit „doppelter Zunge“ sprechen würde. Unabhängig von seiner Berufspraxis, seinen persönlichen Beziehungen zu dem Vorstand seines Instituts oder zu der CDU-Landesregierung, der er als Sozialdemokrat politische Hintergedanken vorwirft, geht es bei Faruk Sen um das altbekannte Problem: Hier wird gegenüber einem zweitklassigen „Fremden“, dessen Wert und Loyalität zweifelhaft sind, eine Grenze gezogen.
Andere deutschtürkische Wortführer haben ähnliches erfahren. Dem Ex-Grünen Ozan Ceyhun wurde einst ein in der Türkei erschienenes Buch zum Verhängnis, in dem er die deutschen Asyllager an einer Stelle mit KZs verglichen hatte. Sein Parteikollege Cem Özdemir stolperte, heftiger als andere, über einen umstrittenen Privatkredit. Hakki Keskin von der Linken-Partei gilt manchen fast schon als „Agent Ankaras“. Und auch der Vorsitzende des islamischtürkischen Ditib-Vereins in Köln, Bekir Alboga, steht, obschon in Deutschland aufgewachsen, im Verdacht, Vorhut einer fünften Kolonne zu sein. Faruk Sen ist ein weiteres abschreckendes Beispiel für alle Deutschtürken, die sich um Integration bemühen. Denn jeder kleine Fauxpas, jedes falsche Wort kann einem offenbar den Kopf und Job kosten, und Schlösser müssen dann ausgewechselt werden, damit man ja nicht wieder in sein Büro einzudringen wagt.
Dabei ist es völlig normal, dass Minderheiten unter sich anders reden als zu ihren Landsleuten: Auch Deutsche in Istanbul reden untereinander anders über Türken als zu den Türken selbst – schließlich ist man eben in der Minderheit und muss seine Worte abwägen. Eine Ironie des Schicksals, dass gerade Faruk Sen in der Türkei als ein „zu deutsch“ assimilierter Mann gilt, der Deutschland immer in Schutz nimmt. Nach dem Brand in Ludwigshafen war es Sen, der im türkischen Fernsehen immer wieder zur Vorsicht mahnte und von den Defiziten der Türken bei der Integration sprach – einer, der „seine Deutschen“ öfter in Schutz nahm, als es manchem türkischen Nationalisten lieb ist. Sein Schicksal wird von manchen in der Türkei jetzt als Beweis für die „Undankbarkeit“ der Deutschen genommen – und instrumentalisiert.
Die türkischen Juden dagegen stellen sich hinter Faruk Sen. Der Großvater des jüdisch-türkischen Schriftstellers Mario Levi sagte diesem in den 1960ern angesichts der Züge mit Gastarbeitern, die nach Deutschland fuhren: „Ich freue mich über diese Auswanderung. Denn die Türken waren bisher nirgendwo eine Minderheit, jetzt werden sie unsere Gefühle besser verstehen.“ Nichts anderes sagte Faruk Sen in jenem Artikel, in dem er den türkischen Juden Ishak Alaton in Schutz nahm: „Wir fühlen mit, denn wir sind ja die neuen Juden Europas.“
Einmal, als ich gerade ein kleines Buch über die jüdische Organisation „Nakam“ las, traf ich einen Kollegen. Er sagte: „Jüdische Rache an den Nazis? Das zergeht doch wie Butter auf der Zunge, oder?“ So ist es. Denn jeder Deutschtürke fühlt sich mit der Geschichte der deutschen Juden verbunden. Nicht der einzigartige Leidensweg des Holocaust ist damit gemeint – ein Thema, mit dem sich übrigens auch deutschtürkische Intellektuelle beschäftigen. Nein, es ist die Vorgeschichte, die uns verbindet. Es bedarf schließlich keiner großen Empathie, um Parallelen zwischen sich und einem Jakob Wassermann zu ziehen, dem seine jüdische Herkunft als ein unüberwindbares Hindernis auf dem Wege zur Deutschwerdung erschien. In „Mein Weg als Deutscher und Jude“ beschreibt er – lange vor Auschwitz – die Unmöglichkeit, als Deutscher anerkannt zu werden. Er beschreibt das auf eine so anschauliche Weise, dass Deutschtürken bei der Lektüre schmerzlich zusammenzucken, weil wir erkennen, dass „Deutscher“ zu werden auch für uns „völlig Angepasste“ ein unmögliches Unterfangen ist. Seit dem „Fettmilch-Aufstand“ hat sich wenig verändert: Die Grenze wird immer noch zwischen Bürgern erster und zweiter Klasse gezogen. Gerade „Assimilierte“ wie wir haben das Recht, dies öffentlich festzustellen.
Dabei war es übrigens Sens Institut, dessen Bonn sich gerne bediente, als es den türkischen Putschgeneral und Staatspräsidenten Kenan Evren Mitte der Achtzigerjahre unverbindlich und still nach Deutschland einladen wollte. Faruk Sen war immer da, wenn Insiderwissen über türkische Zustände und Kontakte zu Personen gefragt war. Unzählige deutsche Politiker, Geschäftsleute und Meinungsmacher haben die Flure seines Zentrums in Bonn durchlaufen, das als Kulisse für inoffizielle Kontakte hoch begehrt war. Vielleicht sollte Faruk Sen seine Memoiren schreiben? Sie würden bestimmt ein Bestseller. DILEK ZAPTCIOGLU
Fotohinweis:Dilek Zaptcioglu, 47, ist in Deutschland aufgewachsen. Sie lebt als Journalistin und Schriftstellerin in Istanbul. Ihr Buch „Deutsche und Türken“ (Brandes & Apsel) handelt auch von der Geschichte der Juden in Deutschland und der Türkei.