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Archiv-Artikel

Fall der Fälle

Nicht die arrivierten Schachspieler reüssieren bei den Schachtagen in Dortmund, sondern der junge Nachwuchs

DORTMUND taz ■ Ein Favoritensturz hat die Schach-Fans im Dortmunder Schauspielhaus besonders aufgeschreckt: Plötzlich kam ihnen Wassili Iwantschuk nach seinem Remis gegen den Russen Jan Nepomniachtschi entgegengefallen. Der zuweilen etwas unbeholfene oder auch geistesabwesende Ukrainer hatte im Halbdunkel die Stufen verfehlt und krachte von der Bühne aus in die erste Zuschauerreihe.

Die Untersuchung im Krankenhaus sorgte für Entwarnung: Der Weltranglistenvierte hatte sich nichts gebrochen und konnte zur vierten Runde am Mittwoch wieder am Brett sitzen. Dort stierte Iwantschuk wie gewohnt an die Decke, um seine genialen Züge zu finden. So recht mag das dem 39-Jährigen aber beim „Sparkassen Chess-Meeting“ noch nicht gelingen.

Nach vier der sieben Runden dümpelt Iwantschuk mit 1,5:2,5 Punkten nur auf dem siebten und vorletzten Platz. Einen sportlich noch schmerzvolleren Favoritensturz erlebte Wladimir Kramnik: Der ehemalige Weltmeister aus Russland kam zum Auftakt erst gegen Jan Gustafsson nicht über ein Remis hinaus, dann unterlag er zwei Runden später auch noch dem zweiten Deutschen im Feld, Arkadij Naiditsch. Ein Desaster, weshalb der Weltranglistenzweite mit nur 2:2 Punkten um seinen Ruf als Dauersieger von Dortmund ernsthaft bangen muss.

Krasser Außenseiter

Dem jetzt gleichauf liegenden Naiditsch war 2005 eine Sensation gelungen, als der damals 19-Jährige die Weltelite in seiner Heimatstadt auf die Plätze verwies. Heuer scheint aber eher Gustafsson den neunten Triumph Kramniks verhindern zu können. Der krasse Außenseiter aus Hamburg luchst bei seinem Dortmund-Debüt den Favoriten – zuletzt am Mittwoch Iwantschuk – ein Remis nach dem anderen ab. Zudem schlug der Weltranglisten-123. im direkten Duell der Nationalmannschaftskollegen die Nummer 54, Naiditsch. So lag der 28-Jährige zusammen mit dem Ungarn Peter Leko und dem erst 17-jährigen Nepomniachtschi (beide 2,5:1,5) vor den drei Schlussrunden am Wochenende an der Spitze. Mit einem Sieg über Schlusslicht Loek van Wely (Niederlande/1:3) könnte Gustafsson den Weg für Platz eins weiter ebnen.

Heißes Halbjahr

Dies wäre ein Auftakt nach Maß für das heißeste Schach-Halbjahr, das Deutschland je gesehen hat. Stehen ansonsten im Sommer die Wettbewerbe in Dortmund und bei den Chess Classic Mainz (Ende Juli) im Mittelpunkt, so sind die beiden Topturniere heuer nur die Generalprobe für die zwei Höhepunkte im Schachkalender: Im Oktober verteidigt Weltmeister Viswanathan Anand (Indien) in Bonn seinen Titel gegen den von ihm entthronten Kramnik. Im November folgt in Dresden die Schach-Olympiade, bei der mehr als 250 Nationalmannschaften um Gold bei Frauen wie Männern sinnieren. Bisher traute man den Schützlingen von Bundestrainer Uwe Bönsch nicht viel zu – spielen Naiditsch und Gustafsson aber wie in Dortmund, ist wie anno 2000 ein Silber-Coup möglich. HARTMUT METZ