: Ehe die Kunst endet
50 Jahre hat Gertraud Herzger von Harlessem ihre Kreativität für sich behalten. Jetzt würdigt das Paula Modersohn-Becker Museum erstmals die aus Bremen stammende Expressionistin
Von Henning Bleyl
Als Galerist oder Museumsmensch muss man sich um Offerten nicht sorgen: Zahlreich sind die KünstlerInnen und deren Angehörige, die auf der Suche nach vermeintlich hochverdientem Ruhm ihre Werke zur Ausstellung anbieten. Entsprechend skeptisch war Rainer Stamm vom Paula Modersohn-Becker Museum, als die Tochter einer gewissen Gertraud Herzger von Harlessem zu ihm kam: Ihre Mutter werde im August 2008 hundert und habe gemalt. Was Stamm dann zu sehen bekam, ist seit Sonntag auch der Öffentlichkeit zugänglich: So sehr beeindruckten ihn insbesondere die experimentellen Druckgrafiken der 1987 verstorbenen Frau.
Von Harlessem, in Bremen geboren und aufgewachsen, kann noch nicht mal als „vergessene Künstlerin“ bezeichnet werden – weil sie nie wirklich bekannt war. Ihre „Karriere“ lässt sich mit zwei Daten markieren: Anfang der 30er Jahre nimmt sie als Studentin der berühmten Kunstschule Burg Giebichenstein an Ausstellungen der Erwin Hahs-Klasse teil, die nächste öffentliche Präsentation ihrer Arbeit findet 1982 statt. Sie heißt „Künstler in Hemmenhofen“.
Insofern ist das, was jetzt in der Böttcherstraße passiert, durchaus eine Sensation: die erste umfangreiche Einzelausstellung einer Künstlerin, die sich ohne Weiteres in eine Genealogie etwa mit Marianne v. Werefkin stellen lässt. Der Grünrausch ihrer „Kinder im Wald“, die malerische Rücksichtslosigkeit des „Atelierfestes“ von 1932: Hier ist eine radikale Frische zu erleben, die Anfang der 30er zwar nicht schockiert – „Blauer Reiter“ und „Brücke“ sind ja bereits im Museum angekommen – aber als eigenständige Position einer jüngeren Expressionisten-Generation durchaus beeindruckt. Und Lust macht auf mehr.
Der perspektivische Sog der „Frauen in der Allee“, erzeugt von surrealistisch verzogenen Baumgestalten, ist nicht frei von formal wirkender kompositorischer Konstruktion – das unheimliche Licht der blau-grünlichen Szene nichtsdestoweniger grandios bedrückend. Auch die diversen Auflösungs-Stadien ihrer Aktstudien weisen von Harlessem als Künstlerin auf der Höhe ihrer Zeit aus.
Die eigentliche Entdeckung aber stellen die mehrfarbigen Holzschnitte dar: Hochexperimentelle Arbeiten zwischen Druckgraphik und Malerei, die man heute als „intermedial“ etikettieren würde. Von Harlessem koloriert ihre Druckstöcke derart, dass sich deren strenge Konturen zu aquarellhafter Leichtigkeit auflösen. Der erdig-orangene „Akt“ von 1932 ist dafür ein ebenso gelungenes Beispiel wie die liegende Gestalt aus demselben Jahr – im Grunde eine Knie-Studie, bei der der Maserung des Druckstocks eine ebenso wichtige Rolle zukommt wie seiner eigentlichen Bearbeitung.
Was ist aus diesem Talent geworden? Der Versuch eines vorläufigen Werkverzeichnisses listet immerhin 290 Arbeiten auf, im Wesentlichen entwickelt sie ihr Oeuvre zwischen 1929 und 1939. Im NS-Staat gibt es kaum Chancen auf Anerkennung, dazu kommt die private „Kulturpolitik“ ihres Mannes, den sie als Leiter der Giebichensteiner Lithografie-Werkstatt kennen lernt: Für Walter Herzger sind zwei KünstlerInnen in einer Ehe zu viel. Seine Frau fügt sich.
Nach dem Krieg arbeitet sie jahrelang am Fließband, um ihrem Mann die Wiederaufnahme seiner Karriere zu ermöglichen. Als Vertreter der flächig-expressiven 50er-Jahre-Malerei wird er Professor der Karlsruher Kunstakademie. Von Harlessem bleibt die Heimlichkeit: Was so entsteht, ist kleinformatig und skizzenhaft, Ölfarbe wegen des Geruchs tabu. Die einzige Betätigung, die ihr Mann duldet – und gern mal Besuchern zeigt – besteht im Bemalen von Spanschachteln. Sieben Jahre vor ihrem Tod traut sich von Harlessem, ohne Wissen ihres Mannes, erstmals wieder auszustellen.
Den Ort ihrer posthumen Anerkennung kannte sie übrigens gut: Mitte der 30er arbeitete sie in der Böttcherstraße als „Aufsichtsdame“.