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Archiv-Artikel

Flügelspitze des Universums

Mal getrommelt, mal gesungen: In der Akademie der Künste gab es zum Auftakt des diesjährigen Poesiefestivals mehr als drei Stunden geballte Dichtung zu hören

Das Großartige an Lyrik in einer Sprache, die man nicht versteht, ist, dass man sich ganz auf ihren Klang, auf Melodie und Rhythmus konzentrieren kann. Die zum neunten Mal im Rahmen des Poesiefestivals Berlin durchgeführte Veranstaltung „Weltklang – Nacht der Poesie“ bot dazu am Samstagabend Gelegenheit. Vier Dichterinnen und sechs Dichter aus zehn Ländern lasen in der Akademie der Künste in insgesamt acht Sprachen. Im Akademiegebäude am Hanseatenweg finden dieses Jahr die meisten Festivalveranstaltungen statt.

Nachdem Thomas Wohlfahrt, der Leiter des noch bis 13. Juli dauernden Poesiefestivals, dieses „Konzert der Verse“ um kurz nach 20 Uhr eröffnet hatte, betrat Serhij Zhadan aus der Ukraine die Bühne. Der 34-Jährige trug seine Lyrik in einem so atemberaubenden Tempo vor, dass jeder Versuch, sie in der am Eingang verteilten Übersetzung mitzulesen, zum Scheitern verurteilt war. So erschloss sich erst im Nachhinein, dass es in „Abschied der Slawin“ um zwei Männer geht, die im Zug nach Wien Karten spielen und sich in deprimierend einfallsloser Weise eine Zukunft als Kleinkriminelle erträumen. Mit den Worten „… und so weiter und so fort“ schloss Zhadan seinen abwechslungsreichen Vortrag.

Im Anschluss offenbarten viele seiner Kollegen ebenfalls erstaunliche Entertainerqualitäten: Die Japanerin Hiromi Ito etwa trug ihre halluzinatorische Abtreibungsfantasie „Kanoko töten“ im Knien vor und trommelte dabei mehrmals mit den Händen auf den Boden, während die amerikanische Spoken-Word-Künstlerin Ursula Rucker, die es durch ihre Kollaboration mit der Hiphop-Formation The Roots zu einer gewissen Bekanntheit gebracht hat, ihre Gedichte mehr sang als las.

Reduziert, schnörkellos, wundervoll war der Vortrag der Dänin Inger Christensen. In eigentümlich nasalem Tonfall las die 1935 in Veije geborene Dichterin herrlich verschrobene Verse, die, meist in strenger Sonettform gehalten, „die Flügelspitze des Universums“ – so heißt es in einem ihrer Gedichte – streiften. Keine schwärmerische Naturlyrik war das, sondern Poesie, die unbarmherzig zum Kern der Dinge vordringen will.

Christensen gelang es, aus der Beobachtung eines kleinen, in sich geschlossenen Mikrokosmos, der Welt der Schmetterlinge, Erkenntnisse über die menschliche Existenz abzuleiten: „Dieses Flügelflimmern – ist es nur eine Schar / von Lichtteilchen in einem Gesicht der Einbildung? / Ist es die geträumte Sommerstunde meiner Kindheit, / zersplittert wie in zeitverschobenen Blitzen?“

Lustig waren die Texte des diesjährigen Peter-Huchel-Preisträgers Ulf Stolterfoht, der in der Vergangenheit durch seine Verhackstückungen fachsprachlicher Texte wie „Anweisungen zur Schweinezucht aus volkseigenen Betrieben der DDR“ unterhaltsam Sprachkritik betrieben hat. Seine mit schwäbischem Akzent vorgetragenen Gedichte handelten vornehmlich von Drogenerlebnissen, „Engelstrompete“ etwa: „schon nach dem ersten zug setzt / dumpfes brüten / ein, die arme hängen rechts und links herab, vor dem / mund bunter / schaum“. Durch überraschende Pointen und immer wieder eingestreute gewollt unsägliche Reime gewann Stolterfohts Lyrik Dynamik.

Es war schon kurz vor Mitternacht, als nach mehr als dreieinhalb Stunden ein Abend zu Ende ging, der einen umfassenden Einblick in das poetische Schaffen auf vier Kontinenten bot. Ob die Qualität der Gedichte tatsächlich durchgängig hoch war, ließ sich – abgesehen von einigen wenigen Totalausfällen – wegen der babylonischen Sprachenvielfalt oft nicht so genau sagen. Aber gerade das war ja das Schöne. ANDREAS RESCH

Programm des Poesiefestivals unter www.literaturwerkstatt.org