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Archiv-Artikel

Aus dem Wartehäuschen

Rumhängen im Raum: Für das Stück „Gleisanschluss Lichtenberg“ sammelten 99 SchülerInnen Stoff im Bahnhof

Das waren noch Zeiten damals: Vor zweieinhalb Jahrzehnten war der Bahnhof Lichtenberg der wichtigste Bahnhof von Ostberlin. Danach ging es stetig bergab. Den Posten des Hauptbahnhofs verlor der Lichtenberger Knotenpunkt noch zu DDR-Zeiten an den Ostbahnhof, wurde von der Wende noch weiter in die Randständigkeit gedrängt und versinkt seitdem Bau des neuen Hauptbahnhofs endgültig in der Bedeutungslosigkeit. Nun lebt der Bahnhof Lichtenberg ein ruhiges Schmuddeldasein weit ab vom Schuss.

Mit dem Stück „Gleisanschluss Lichtenberg“, das am Dienstag seine Uraufführung erlebte, setzt das nur wenige Gehminuten vom Bahnhof entfernte Theater an der Parkaue den Schlusspunkt unter ein halbes Jahr intensiver Beschäftigung mit dem Bahnhof als Ort zahlreicher künstlerischer Projekte.

99 Berliner SchülerInnen, die in Schreibworkshops mit der Autorin Annett Gröschner Alltagsbeobachtungen auf dem Bahnhof niederschrieben, haben an dem Stück mitgewirkt. Gröschner selbst kam die Aufgabe zu, aus diesen Geschichten einige auszuwählen und zu einem Theatertext zu verdichten. Der Regisseur Sascha Bunge hat daraus zusammen mit der Choreografin Lara Kugelmann eine eindrucksvolle Bühnenshow gemacht.

Das ist ja nicht ganz einfach, denn die Geschichten und Geschichtchen der Personen, die auf dem Bahnsteig abhängen, bilden keinen zusammenhängenden dramatischen Stoff. Eine Hauptperson gibt es auch nicht, da diese ja der Bahnhof selbst ist. Wie aber einen Raum lebendig machen?

Dafür greift der Regisseur zu einem so einfachen wie überzeugenden Rezept. Dieses basiert auf einem Bühnenbild, das, mit einigen typischen Orientierungspunkten wie Wartehäuschen, Fahrkartenautomat etc., viel Raum lässt für Bewegung. Denn nur durch Bewegung wird der Raum erfahrbar.

Gleich zu Beginn, noch fast im Dunkeln, tanzt eine junge Frau zu lauter Musik. Man folgt ihr mit den Augen, und als dann andere Darsteller die Bühne betreten, hat man als Zuschauer schon den gesamten Bahnhofsraum in sich aufgenommen. Diese raumorientierte, abwechslungsreiche Dramaturgie, bei der tänzerische und musikalische Elemente das Sprechtheater ergänzen und erweitern, trägt maßgeblich dazu bei, die Episodenhaftigkeit des Stücks in den Hintergrund treten zu lassen.

Verschiedene Typen treten auf: eine Blinde, die im Wartehäuschen sitzt und auf recht misanthropische Weise von fern am Leben der anderen teilnimmt. Ein musikalischer Penner. Ein junges Mädchen mit dickem Schwangerschaftsbauch, hin und her gerissen von Gefühlen zwischen Verzweiflung und Wut. Ein Möchtegern-Cowboy, der den Part des Bahnhofspöblers übernimmt und alle aggressiv angeht, die in seine Richtung gucken. Ein ostalgischer Sandalenträger, der das Mitropa-Restaurant vermisst. Ein diensteifriger, etwas überforderter junger Bahnhofsangestellter.

Die Dialoge münden meist in Monologen, da jede der Figuren so in ihre Geschichte eingesponnen ist, dass ein echtes Gespräch nicht stattfinden kann. Doch durch die Besonderheit des Orts, der zum Rumhängen wie geschaffen scheint, ist es ganz natürlich, dass die meiste Zeit ziemlich viele Schauspieler – einmal sogar alle zwölf – auf der Bühne sind und sich so eine Art unverbindlicher Zusammenhang zwischen den Personen und ihren Schicksalen einstellt.

Realistische Elemente wechseln dabei mit treffender Satire. Es gibt einiges zu lachen; zur Freude des Publikums vor allem auf Kosten der Deutschen Bahn. Das Publikum kann die zufriedene Einsicht mit nach Hause nehmen, dass es das eben auch gibt: geistreiches, alltagsnahes Theater, das den Text ernst nimmt, ihn dabei aber wunderbar in Bewegung bringt.

KATHARINA GRANZIN

Heute im Theater an der Parkaue, 19 Uhr