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Archiv-Artikel

Angst vor Bankencrash im Baltikum

Estland und Lettland kämpfen mit der höchsten Inflation der EU. Banken schrecken vor Abwertung der Währung zurück

STOCKHOLM taz ■ Die baltischen Staaten könnten für TouristInnen bald wesentlich attraktiver werden. Denn viele Finanzexperten halten eine Abwertung der Währung in Estland und Lettland inzwischen für kaum mehr vermeidbar. Für Reisende im Baltikum heißt das: Sie können mehr für ihr Geld kaufen, das Nachsehen haben die Einheimischen.

Das ökonomische Wachstum der baltischen „Tigerwirtschaften“, welche jahrelang die höchsten Zuwachsraten in der EU hatten, ist dramatisch gefallen. In Lettland rechnet die Londoner Analysegruppe „Capital Economics“ nach einem zweistelligen Plus im vergangenen Jahr für 2008 mit einem Wirtschaftswachstum von minus 1,5 Prozent. In Estland könnte das Bruttoinlandsprodukt dieses Jahr sogar um 2,5 Prozent schrumpfen. Bei der Inflation dagegen belegt das Baltikum den Spitzenplatz unter Europäern: In Lettland waren es im Juni 17,7 Prozent. Das Überschreiten der 20-Prozent-Marke droht innerhalb der nächsten Monate. Estland und Litauen schneiden mit Inflationsraten von rund 11 und 12 Prozent im Juni etwas besser ab.

Die Inflation trifft Staatsangestellte, Arbeitslose und RentnerInnen besonders hart. Während Wirtschaftsboom und Arbeitskräftemangel in der Privatwirtschaft zu Lohnsteigerungen von teilweise über 30 Prozent führten, haben die Einkommen dieser Gruppen damit nicht Schritt gehalten. Zwar wurden in Lettland ab 1. April zumindest die Renten unter 150 Lats (rund 210 Euro) formal an den Inflationsindex gebunden, doch bekommen die RentnerInnen trotzdem jeden Monat weniger für ihr Geld. Der Grund: Dieser Index spiegelt die tatsächliche Preissteigerung bei Produkten des täglichen Bedarfs nicht wieder. Lebensmittelpreise sind um über 20 Prozent, Kosten für Strom und Gas um 40 Prozent gestiegen.

Große Teile des Wirtschaftswachstums der vergangenen Jahre wurden auf Pump finanziert. Doch nun beginnt diese Blase zu platzen – als Erstes auf dem Immobilienmarkt. Die Preise für Wohn- und Büroräume sind in Riga und Tallinn binnen eines Jahres um bis zu 38 Prozent gefallen.

Der durch vermindertes Wirtschaftswachstum, hohe Inflation und ein kräftiges Handelsbilanzdefizit aufgebaute Druck ließe sich teilweise über eine Abwertung der jetzt fest an den Eurokurs gebundenen Währungen abbauen. Davor schreckten die Zentralbanken bisher zurück. Die meisten Banken haben dem lettischen Lats und der estnischen Krone nie richtig vertraut und fast alle Kredite auf Euro-Basis vergeben. Bei einer Abwertung würde sich die Schuldenlast privater und wirtschaftlicher Kreditnehmer deswegen dramatisch erhöhen. Doch die Frage ist, ob die Politik – die vor allem in Estland und Lettland versäumt hat, dem schuldenfinanzierten Konsum durch unpopuläre Eingriffe rechtzeitig gegenzusteuern – die Entwicklung überhaupt noch im Griff hat. Komme jetzt nur eine Bank wegen eines hohen Anteils fauler Kredite in Schieflage, warnte kürzlich die britische Wirtschaftszeitung The Economist, könnte das alle baltischen Währungen in den Strudel ziehen. REINHARD WOLFF