: berliner szenen Am Kanal
Trümmer und Träume
An diesem Wochenende habe ich eine besondere Verabredung. Statt am Sonntagnachmittag mit Freund oder Hund am Kanal spazierenzugehen, treffe ich mich mit den Gespenstern der bolivianischen Guerilla „Tania“ Tamara Bunke und Eva ‚Evita‘ Perón, ehemals Argentiniens Primera Dama. Wir sind in Neukölln verabredet, in einer ehemaligen öffentlichen Toilettenanlage an der Wildenbruchbrücke, seit zwei Jahren die Galerie „toiletten 27“. In einem stillgelegten Abort treffe ich die Ikonen des lateinamerikanischen Befreiungskampfes – selbstverständlich im früheren Damen-WC.
In drei kleinen Räumen hat die argentinische Künstlerin Azul Blaseotto Fotos der Frauen auf eine spießige Fünfzigerjahre-Tapete geklebt und ihr Gedankengut in Satzfetzen an der Wand festgehalten. „Bunke und Perón standen für den gesellschaftlichen Aufbau, für etwas radikal Neues. Ich nenne sie deshalb ‚Träumefrauen‘“, sagt die Künstlerin und zieht eine sprachliche Verbindung, die – zumindest was den Ort betrifft – plausibel erscheint: „Träume gehen einher mit Trümmern.“ Tatsächlich bröckelt im sanitären Kunstraum der Putz von der Wand. Das Fensterglas ist kaputt und gibt den Blick auf den Neuköllner Schifffahrtskanal frei. Diese Aussicht erinnert Blaseotto auch an einen anderen weiblichen Schatten der Geschichte: die Trümmerfrauen nach dem Zweiten Weltkrieg. Zwar sei es ihnen nicht um Aufbau, sondern um Wiederaufbau gegangen, aber zumindest eins hätten sie Perón und Bunke vorausgehabt: Bereits zu Lebzeiten haben sie regelmäßig den Neuköllner Schifffahrtskanal durchquert. Denn dieser war damals die Hauptverkehrsachse, auf der sie den Kriegsschutt aus Berlin per Schiff aus der Stadt transportierten. JESSICA ZELLER