piwik no script img

Archiv-Artikel

normalzeit HELMUT HÖGE über unterwegs aufgeschnappte Phrasen

„In restaurativen Zeiten verludern die Wörter!“ (J.-P. Sartre)

Plötzlich hörte ich vom Nebentisch den Satz: „Der Ausschluss hat ihn traumatisiert!“ Auch wieder so eine Phrase, die dem Indifferenten Vorschub leistet.

Robert Castel datiert das „explosionsartige Aufkommen“ der Rede von den „Ausgeschlossenen“ auf den Winter 1992/93. Damals wurde in Frankreich die Schwelle von drei Millionen Arbeitslosen überschritten. Die Bilanz der sozialistischen Regierungen fiel in sozialer Hinsicht unrühmlich aus. „Die Frage des Ausschlusses wird damals zur ‚sozialen Frage‘ par excellence.“ Es ist kein analytischer Begriff: Er soll heute diese, morgen jene Personengruppe charakterisieren – um nicht zu sagen: traumatisieren.

Ein anderer Beitrag in einem Suhrkamp-Buch über diesen Begriff, herausgegeben von Heinz Bude, hat den Titel „Exclusion – The New American Way of Life?“ Von dort kam auch der ebenso schwammige Begriff des Traumas. Er ersetzte die Kriegsneurose, deren verborgener Sinn darin bestand, einem unerträglichen Geschehen zu entrinnen, weswegen die daran erkrankten Soldaten lange Zeit als Simulanten galten.

Seit der glücklosen Rückkehr der US-Soldaten aus Vietnam spricht man jedoch bei ihren Kriegserfahrungen von „Traumata“: 1980 gelang es ihrem Verband „Vietnam Veterans“, wenn schon keine gutdotierten Jobs, so wenigstens die offizielle ärztliche Anerkennung ihrer „Krankheit“ durchzusetzen – als PTSD: „Post-Traumatic Stress Disorder“.

„Die PTSD-Diagnose bedeutete eine Würdigung ihrer psychologischen Leiden“, schreibt die Soziologin Eva Illuoz, und das war wiederum aufs engste „mit der Versicherungsdeckung verknüpft“. Von den Vietnam Vets ausgehend wurde „das PTSD schon bald auf immer mehr Vorkommnisse und Fälle ausgeweitet, etwa auf Vergewaltigungsopfer, terroristische Angriffe, Unfälle, Verbrechen etc.“

Täter wie Opfer konnten „traumatisiert“ sein. Ja, Täter konnten Opfer und Opfer zugleich Täter sein, auch Faschisten und Kommunisten wurden austauschbar – vor der Totalität des Traumas waren sie alle gleich. So erwähnt zum Beispiel der „Traumaexperte“ David Becker im Vorwort zum Aufsatzband „Nach dem bewaffneten Kampf“ den Psychiater Wilfred Bion, der nach dem Zweiten Weltkrieg kriegstraumatisierte GIs in einem US-Militärkrankenhaus als Gruppe therapierte, um danach sogleich auf einige ehemalige Mitglieder der RAF und der Bewegung 2. Juni zu sprechen zu kommen, die sich ebenfalls als „Traumatisierte“ und als Opfer des Staates – nach ihrer als Folter empfundenen Isolationshaft – begriffen und deswegen mit mehreren Therapeuten zusammen ein langjähriges Gruppengespräch begannen. Keine Therapie, denn „man sei schließlich nicht krank“. Einer der beteiligten Psychoanalytiker, Volker Friedrich, resümiert: „Wurde anfangs noch rhetorisch mit dem Begriff der Traumatisierung umgegangen – das Wort hatte hohe Konjunktur, man wusste sehr gut Bescheid –, so wurde es mit der Zeit immer schwerer, dieses Wort als einen sinnstiftenden Begriff anzuerkennen.“ Die Therapeutin Angelika Holderberg erinnert sich, dass irgendwann „der bedeutsame Satz fiel: ‚In der RAF hat es keine wirklichen Freundschaften gegeben‘“. Auch fünf andere Autoren der Aufsatzsammlung zitieren ihn.

In seinem Lehrstück „Die Maßnahme“ hat Bertolt Brecht dieses Problem 1930 am Fall einer klandestinen kleinen Kadergruppe durchgespielt. Einer der Genossen reagierte mehrmals derart unpolitisch, das heißt menschlich, dass ihn die drei anderen, nachdem er dadurch ihren „Auftrag“ in Gefahr gebracht hatte, umbringen. Brecht lässt ihren Mord, der keinem „Verräter“, sondern höchstens einem Schwächelnden galt, durch einen Chor – als Parteigericht – für gerechtfertigt erklären.

Im Jahr 1948 hat Jean-Paul Sartre dieses „Problem“ noch einmal aufgegriffen – in seinem Stück „Die schmutzigen Hände“. Hier ist es jedoch der Mörder, der es nicht schafft, den parteipolitischen Versager zu töten, woraufhin seine Frau zu einer „Verräterin“ wird, indem sie sich in den Genossen, dessen Tod beschlossen wurde, verliebt. Erst in diesem Moment gelingt dem Mörder die Tat – aus völlig unpolitischer Eifersucht also.

In den 70er-Jahren wurde dieses Sartre’sche „Partisanen-Drama“ in Belgrad inszeniert. Der in Berlin lebende Regisseur Zoran Solomun erinnert sich: „Es wurde ein Kultstück. Das waren die ersten Töne, die die Autoritäten in Frage stellten.“ Genau genommen kamen diese Stimmen jedoch von der 68er-Studentenbewegung – und dieses Theaterstück war eine Folge davon.

Jüngst hat Frank Casdorff es noch einmal an der Volksbühne inszeniert, wobei er die Partisanen-Problematik bis zu Karadžić hin verlängerte – als den letzten degenerierten Kommunisten, mit einer jugoslawischen Fahne auch noch. Das ist falsch, das hätte er höchstens mit Milošević machen können. Demnächst wird es eine nochmalige Inszenierung des Stückes in Belgrad geben.