: Nation im Schmerz
Israel musste für den Austausch einen Mörder begnadigen. Das Land trauert um seine toten Soldaten
AUS JERUSALEM SUSANNE KNAUL
Erst als gestern früh die Bilder von den zwei schwarzen Särge im Fernsehen übertragen wurden, hatten die Familien, die bis zur letzten Minute hofften, Gewissheit. Die beiden im Sommer 2006 entführten israelischen Soldaten Udi Regev und Eldad Goldwasser sind nicht mehr am Leben. „Eldad, mein Eldadi, was haben sie mit dir gemacht?“, rief die Tante von Goldwasser, bevor sie zusammenbrach. Vor den Wohnhäusern der beiden Familien versammelten sich Nachbarn und Freunde, weinten oder drohten Hassan Nasrallah, dem Chef der Hisbollah, dass er „eines Tages dafür bezahlen“ werde.
Zwei Jahre und vier Tage lang bewahrten die libanesischen Extremisten ihr Schweigen über den Gesundheitszustand der beiden Reservesoldaten. Damit trieben sie den Preis für ihre Auslieferung hoch. Weder das Rote Kreuz bekam Zugang zu den Geiseln noch die Vertreter des Bundesnachrichtendienstes, die in der Affäre vermittelten. Am Dienstag bestätigte die Regierung in Jerusalem erneut ihre Zustimmung zu dem Handel. Der mehrfache Mörder Samir Kuntar würde nach 29-jähriger Haft in den Libanon zurückkehren und mit ihm vier während des Krieges im Sommer 2006 festgenommene Hisbollah-Kämpfer. Außerdem würden die Leichen von ca. 200 Arabern überführt werden, die bei Auseinandersetzungen mit der israelischen Armee gefallen waren.
Gegen 11 Uhr brachten Fahrzeuge des Roten Kreuzes die Särge mit den beiden toten Israelis über die Grenze. Wenig später setzte sich der Zug der Rotkreuz-Lastwagen mit den Leichen der arabischen Kämpfer in umgekehrter Richtung in Bewegung. Die fünf noch lebenden Libanesen, die, mit hellen Sweatshirts und Jeanshosen bekleidet, schon am Morgen zum Grenzübergang transportiert worden waren, sollten erst nach Identifizierung der Körper von Goldwasser und Regev mithilfe eines DNA-Tests ausgeliefert werden. Die Untersuchung zog sich über mehrere Stunden hin.
Samir Kuntar hatte in der Nacht zum 23. April 1979 eine Terrorgruppe kommandiert, die mit ihrem Schlauchboot vor der Küste der nordisraelischen Stadt Naharia anlegte. Die Gruppe gehörte zur Palästinensischen Befreiungsfront (PLF), der sich Kuntar schon als 17-Jähriger angeschlossen hatte. Die propalästinensische Bewegung wollte in Naharia gegen das israelisch-ägyptische Friedensabkommen protestieren. Als die Polizei dem Kommando auf die Spur kam, erschoss Kuntar einen Wachmann und nahm einen israelischen Zivilisten und seine Tochter als Geiseln. Vor seiner Festnahme erschoss er den Vater und erschlug das vierjährige Mädchen mit dem Gewehrkolben.
Staatspräsident Schimon Peres musste, um den Geiselaustausch möglich zu machen, Kuntar begnadigen. „Ich treffe diese schwere Entscheidung, nachdem ich mit den Opfern dieses abscheulichen Mörders gesprochen habe“, schreibt Peres in der Begnadigung. „Ich empfinde, gemeinsam mit der gesamten Nation, ihren bitteren und unerträglichen Schmerz. Ich habe weder vergeben noch vergessen.“
Die Minister hatten am Dienstag mit 22:3 Stimmen für den Handel gestimmt und damit dem Druck der Familien und der israelischen Öffentlichkeit nachgegeben, trotz der Vermutung, dass die israelischen Geiseln nicht mehr am Leben waren. „Das Prinzip, die gefangenen Soldaten nach Hause zu bringen, ist grundsätzlich richtig“, kommentierte Sozialminister Jitzhak Herzog (Arbeitspartei) gestern den Austausch. „Das Volk in Israel ist in Trauer vereint und umarmt die Familien.“
Schlomo Goldwasser räumte ein, dass die Nachricht über den Tod seines Sohnes nicht überraschend kam, dennoch sei es „furchtbar schwer, der Realität ins Auge zu blicken“. Weder er noch seine Frau wollte die Leiche sehen, sondern „Ehud lebend in Erinnerung behalten“. Er hege keinerlei Groll gegen die Armee, sagte er, wolle aber wissen, ob sein Sohn während des Überfalls gestorben sei oder erst während der Geiselhaft.