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Archiv-Artikel

Bekiffte Snobs

Ganz oben ist es auch nicht immer schön: Edward St Aubyns Trilogie um die britische Upperclass liegt nun vollständig auf Deutsch vor

VON MARGRET FETZER

Das Tolle an Literatur ist ja, dass man mit ihrer Hilfe Zutritt zu ansonsten unzugänglichen Welten erhält, und entsprechend reizvoll ist es, in Edward St Aubyns Romanen für den Moment des Lesens in das degenerierte Milieu der englischen Upperclass der 80er- und 90er-Jahre einzutauchen. Mit „Nette Aussichten“ ist der dritte und letzte Teil von St Aubyns „Patrick Melrose Trilogy“, die er schon in den 90er-Jahren geschrieben hat, bei Dumont erschienen, und auch in diesem sehr englischen Roman gilt das Bonmot der anderen Länder und Sitten. Viel mehr als Deutschland oder Frankreich ist England auch heute noch eine Klassengesellschaft, und selbstverständlich strotzen die oberen Zehntausend, die sich nach oben geerbt, geheiratet oder geschlafen haben, bei St Aubyn nur so vor Snobismus und Arroganz. Im Aufrufen beliebter Klischees – zum Beispiel dem, dass adlige, aber verarmte Engländer reiche Amerikanerinnen heiraten, die sie im Gegenzug mit ihrem Adelstitel beglücken – gelingt es St Aubyn, ein äußerst überzogenes, aber dafür umso unterhaltsameres Bild vom Leben der britischen Superreichen zu zeichnen, wo, in Ermangelung eigener Noblesse, französisches Essen und Savoir Vivre nach wie vor den Standard vorgeben.

Ein erhebliches Problem hat diese Romantrilogie allerdings mit ihrer Übersetzbarkeit, denn nur selten spielen die Eigenheiten einer Sprache eine so große Rolle wie hier. Die Subtilitäten des typisch englischen Oberschichtensprechs, seine Doppelbödigkeit und trockene Ironie, die diese Briten besonders gegenüber den naiveren und wesentlich argloseren Amerikanern an den Tag legen, ist durch die Übersetzung stark gefährdet. Auch die literarischen Zitate, mit denen man beim Dinner allseits gern um sich wirft, haben für deutsche Leser kaum den gleichen Wiedererkennungseffekt. Diese besonderen Schwierigkeiten kann man dem jeweiligen Übersetzer zwar wohl kaum vorwerfen – wohl aber darf man da Kritik anbringen, wo jemand sein Beileid mit den Worten „Ich stelle mir vor, dass sie der Verlust ihres Vaters sehr getroffen hat“ äußert, und einem das englische „I imagine“ noch förmlich ins Gesicht springt. Unnötigerweise leidet die stilistische Kontinuität der Romanfolge außerdem darunter, dass für jeden Band ein anderer Übersetzer bemüht wurde.

Normalerweise funktionieren Serien ja nach dem Prinzip, ein altbewährtes Rezept zu wiederholen. Alle drei Romane präsentieren die Szenen jeweils ungefähr eines Tages in Südfrankreich, New York und England und sind dadurch miteinander verbunden, dass die Figuren ihre britische Versnobtheit überallhin mitnehmen und der anfangs fünfjährige Patrick Melrose im letzten Roman etwa Anfang dreißig ist. Dennoch sind die drei Bücher sehr unterschiedlich, und das ist schade, denn St Aubyns erster Roman „Schöne Verhältnisse“ ist mit Abstand der beste.

In „Schöne Verhältnisse“ gibt es sieben Hauptfiguren, denen ähnlich viel Platz eingeräumt wird, sodass mehrere hervorragende Charakterskizzen entstehen. Auch die Kinderperspektive, aus der heraus der fünfjährige Patrick gefährliche Raubzüge mit seinem Plastikschwert besteht, gelingt überzeugend. Echte Lacher, wie die versuchte Flucht der Hippiebraut Bridget, die sich im Haus der Melroses mit ihrem adligen Lover Nicholas nur dann nicht langweilt, wenn sie masturbieren oder kiffen kann, stehen unheimlich nahe neben der abgrundtiefen Bosheit David Melroses, dessen duckmäuserische und alkoholabhängige Frau Eleanor auch mal auf allen vieren vom Boden frisst, um seinem Willen Genüge zu tun – ein Umstand, der Davids Freunde zugleich fasziniert und amüsiert.

Man kann sich denken, dass es auch um Patricks Verhältnis zu seinem Vater nicht zum Besten steht, und so bringen ihn die „Schlechten Neuigkeiten“ vom Tod seines Vaters, dessen Asche er im zweiten Roman aus New York abholen soll, viel weniger aus der Fassung als die Frage, wo und wann er sich den nächsten Schuss setzen wird. Die Handlung kreist hier ausschließlich um Patricks Drogensucht, und in seiner Beschreibung verschiedener „Venenkrater“ schafft es St Aubyn, beim Leser in Form von Brechreiz echte körperliche Regungen hervorzurufen. Man hat also das zweifelhafte Vergnügen, Patricks Entzugserscheinungen und deren Nebenwirkungen leibhaftig beizuwohnen – aber mit dem Highwerden klappt es nicht so gut, abgesehen von den wenigen Momenten, in denen Patrick seine drogenbedingte Egozentrik kurzzeitig herunterfährt und man mit der Lebensgeschichte von Patricks Privatdealer Pierre vertraut gemacht wird, der sich acht Jahre lang für ein Ei gehalten hat.

Beim Lesen von „Nette Aussichten“ schließlich ist man ähnlich nah am Geschehen dran: Das ganze Buch handelt nicht nur von einer großen Party, auf der man die Leute, die man eigentlich kennen sollte, nicht auseinanderhalten kann – es liest sich auch genauso. Einige Highlights, wie zum Beispiel der Besuch von Patricks bestem Freund Johnny in einer Selbsthilfegruppe, sollten nicht unerwähnt bleiben. Auch beweist St Aubyn Mut, wenn er das Kindheitstrauma, das Patrick Johnny an jenem Abend anvertraut, nicht als platzende Bombe inszeniert: „Die Katharsis der Beichte war nicht erfolgt.“ Solche Mechanismen greifen nicht mehr, und wenn Johnny später feststellt, dass der Zeitpunkt, zu dem er Patrick noch nach den Details der damaligen Ereignisse hätte fragen können, verstrichen sei, glaubt man, eine Spur von ätzender Sensationsgier läge wie ein unsichtbarer Film auch auf dieser Freundschaft.

Obwohl die Leseerfahrung auch von St Aubyns zweitem und drittem Roman intensiv ist, ist sie mit der letzten Seite des jeweiligen Buchs abgeschlossen. Doch lange nach dem Lesen von „Schöne Verhältnisse“, des ersten Romans, muss man immer noch darüber lachen, wie die Amerikanerin Anne die subtilen Sticheleien ihrer Umgebung in gänzlich unenglischer Plattheit pariert – und man erinnert sich auch daran, wie die Eidechse, in die sich der kleine Patrick verwandeln will, als sein Vater ihn in sein Zimmer zitiert, über die weiße Wand nach draußen huscht.

Edward St Aubyn: „Nette Aussichten“. Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren. DuMont, Köln 2008, 188 Seiten, 17,90 Euro