„Wir-Projekte sind attraktiv“

Vor neun Jahren verschickte Krystian Woznicki zum ersten Mal die „Berliner Gazette“ per E-Mail. Heute arbeiten weitere sieben Mitarbeiter ehrenamtlich für das Mini-Feuilleton, das sich in diesem Jahr dem Thema „Gemeinschaft“ verschrieben hat

INTERVIEW ULRICH GUTMAIR

Die gemeine E-Mail ist das am meisten unterschätzte Format des Internets. Zwar reden alle von Online-Communitys, der primäre Ort fürs social networking war und ist aber die eigene Mailbox. Sie ist der zentrale Umschlagplatz für persönliche Nachrichten, aber auch für Postings auf Mailinglisten oder Newsletter. Vor neun Jahren gründete Krystian Woznicki die „Berliner Gazette“, die seither einmal in der Woche an knapp 3.000 Abonnenten verschickt wird. Wir fragten ihn – natürlich per E-Mail –, wie man ein solches Projekt organisiert und finanziert.

taz: Herr Woznicki, was ist die Berliner Gazette ?

Krystian Woznicki: Die Berliner Gazette ist ein digitales Mini-Feuilleton. Unser Vorhaben besteht darin, das Spannungsfeld von Kultur und Stadt, Gemeinschaft und Internet auszuloten. Das Internet ist für uns nicht einfach nur der Ort, an dem die Berliner Gazette erscheint, sondern der soziale und technische Raum, der alles, was uns wichtig ist, entscheidend prägt: Was ist Kultur? Was ist die Stadt? Was ist Gemeinschaft? Diese Fragen stellen sich im und aus dem Internet heraus auf gewisse Weise neu. Wir werden manchmal skeptisch gefragt, was die Berliner Gazette überhaupt mit der Stadt Berlin zu tun hat, weil bei uns oft sehr internationale Themen und Figuren ins Spiel kommen.

Wie wichtig ist dabei dieses Spannungsfeld zwischen lokal und global?

Diese Globalität ist für uns von großer Bedeutung, nicht zuletzt deshalb, weil sie uns immer wieder vor Probleme stellt: Wie kann ich einen (engagierten) Bezug zu meiner unmittelbaren Nachbarschaft haben und mich gleichzeitig für Probleme der Weltpolitik interessieren? Mit unseren Jahresthemen versuchen wir, über solche Fragen nachzudenken. Wir suchen dabei stets den Dialog mit Kulturschaffenden. Fast alles läuft per E-Mail. So wie es vor neun Jahren auch angefangen hat.

Wie kommt man auf die Idee, ein Feuilleton per E-Mail zu verschicken?

Ich war 1998 aus Tokio nach Berlin gezogen und wollte ein neues Projekt anfangen. Ich war damals 26 und hatte schon in Japan viel mit Menschen zu tun gehabt, die im Internet unterwegs waren. Ich kam über meinen Freund Klaas Glenewinkel mit der Firma Ponton ins Gespräch, die gerade einen überregionalen Kulturserver aufbaute. Damals haben mich Projekte wie „Abfall für alle“ von Rainald Goetz beschäftigt – hier fiel das Prozessuale sehr stark ins Gewicht. Das hat mich inspiriert. Kulturserver konnte sich einen Newsletter vorstellen. Aber ich wollte keinen Newsletter machen, das hatte so einen korporativen Touch. Ich verschickte den ersten Kulturbrief an die regionalen und überregionalen Kontakte des Kulturservers am 14. Juli 1999 – schon damals war der Spagat zwischen lokal und translokal ein Problem! Wie konnte man Menschen in Berlin und Menschen von außerhalb gleichermaßen ansprechen? Im Wochenrhythmus ging es weiter. Jeweils dienstags. Eine Routine, an der sich bis heute nichts geändert hat. 2002 ging die Berliner Gazette als Internet-Magazin mit dem ersten redaktionell betreuten Blog Deutschlands online.

Die Berliner Gazette ist heute als Verein organisiert, immerhin sieben Leute arbeiten außer Ihnen fest an ihr. Wie funktioniert das ökonomisch?

Die Frage nach den ökonomischen Rahmenbedingungen ist tatsächlich sehr wichtig. In den ersten Jahren, als der Kulturserver das Projekt finanziell mit einer Unkostenpauschale unterstützte, reichte das Geld nur, um Telefon- und Internetrechnungen zu bezahlen. Venture Capital war kein Thema, die New Economy war uns zu sprunghaft. Überzeugende Alternativen gab es nicht. Dennoch begann nicht nur ich, die Arbeit immer ernster zu nehmen. Wo es kein Geld gibt, ist der Grund für die Zusammenarbeit besonders wichtig. Ich glaube, für uns besteht er darin, etwas gestalten zu können. Man begeistert sich für die Sache und für die Leute, die sie machen. So bildet eine Ökonomie des Gemeinsamen eine wichtige Grundlage für die Berliner Gazette. Der Appell der heutigen Zeit, man müsse das eigene Überleben sichern, stellt diese Ökonomie auf eine harte Probe. Der weit verbreitete Juckreiz des Einzelkämpfertums lässt Wir-Projekte, die kein Geld abwerfen, unattraktiv erscheinen. Gleichzeitig entfalten Wir-Projekte aber auch eine starke Anziehungskraft für Menschen, die weder Einzelkämpfer werden noch den Kapitalismus zu ihrer Religion machen wollen. Wenn alle zu den gleichen Bedingungen arbeiten, nämlich ehrenamtlich, und wenn ihr Beitrag nicht erfordert, ihre ganze Zeit zu investieren, sondern nur einen kleinen Teil davon – dann kann so etwas funktionieren, auch auf Dauer. Beim digitalen Mini-Feuilleton ist nicht nur Lese-, sondern eben auch die Arbeitszeit „mini“.

Im Netz kann man auch ohne Verlag im Rücken publizieren. Ist man aber wirklich unabhängig, wenn man auch öffentlich gefördert wird und nebenher arbeiten muss?

Auf institutionelle Förderungen haben eigentlich nur Opernhäuser eine realistische Aussicht. Der andere Bereich des Fördersystems ist primär für zeitlich befristete Vorhaben gemacht. Das heißt, Kulturschaffende werden geradezu entmutigt, langfristige Projekte anzugehen, geschweige denn fortzusetzen. Dennoch bleibt die Förderung wünschenswert, nicht zuletzt, weil mit den Mitteln größere Entwicklungsschritte möglich werden. Deshalb haben wir 2005 den Verein gegründet und 2006 erstmals eine Förderung für ein Vorhaben beantragt und erhalten. Vielleicht haben wir länger als andere überlebt, weil wir so spät das Förderkarussell bestiegen haben oder weil wir so selten berücksichtigt werden und wohl oder übel nicht der Versuchung erlegen sind, von Fördertöpfen zu leben. Die Bedingungen in der Arbeitswelt sind nicht weniger paradox. So fungiert die Berliner Gazette nicht zuletzt als ein Ort, an dem solche Widersprüche thematisiert, ausgetragen und mit Gegenentwürfen, wenn nicht überwunden, so doch kritisiert werden können. Das ermöglicht sicherlich keinen unvoreingenommenen Blick auf den Kulturbetrieb. Aber genau das ist der Punkt: Nur ein voreingenommener Blick vermag den Verhältnissen im Kulturbetrieb wirklich gerecht zu werden. Zumindest sofern er die Bedingungen seiner Voreingenommenheit kritisch reflektiert.

Eines der zentralen Formate der Berliner Gazette sind die Protokolle. Welche Idee steckt hinter diesem Format?

Als wir den Verteiler nach ungefähr eineinhalb Jahren über ein öffentliches Interface komplett neu strukturiert haben und eine überschaubare Anzahl von Abonnenten übrig blieb, begann der Dialog mit den Lesern, zu denen auch heute noch Künstler, Kuratoren und Wissenschaftler zählen. Ich fand mich in der Rolle des Moderators wieder. Nicht selten resultierte der E-Mail-Dialog in einem Beitrag. Um das organisatorisch zu bewältigen, begann ich den Prozess mit Fragebögen zu verkürzen. Am Ende wurden dann nur die Antworten veröffentlicht, das Protokoll. Wir haben den diesjährigen Schwerpunkt „minimum – die Suche nach dem Gemeinsamen“ genannt. Wir fragen also nach etwas, das uns nicht nur verbindet, sondern auch unterscheidet. Aus den bisherigen Beiträgen geht nicht zuletzt hervor, dass das Gemeinsame auch im Konflikt zum Tragen kommt und dass es nicht reicht, das Gemeinsame nur positiv zu definieren. Hier kommt ein Verständnis der Gemeinschaft zur Sprache, das zukunftsweisend ist – sowohl für die Berliner Gazette als auch für die Gesellschaft en gros.