Agitation im Nebelmeer

Das Collegium Hungaricum vergleicht in einer Ausstellung die chinesische Kulturrevolution und die ungarische Räterepublik von 1919. Die gemeinsamen Themen der Künstler reichen von Propagandatechniken bis zur Art des verordneten Friedens

VON BIANCA SCHRÖDER

Der Verfall revolutionärer Ideale kann unterschiedlich aussehen. In Hongdu nimmt er die Gestalt eines modernen Kinosaals an, in Gexian zeigt er sich als karge, schmutzige Scheune. Beide Gebäude sind auf den Fotografien des chinesischen Künstlerpaars Muchen und Shao Yinong menschenleer, und doch verströmen sie einen Rest von Wärme – als seien die Besucher gerade gegangen oder kämen gleich an. Dabei verbinden höchstens die roten Banner diese Orte mit ihrer Vergangenheit als Versammlungshallen, in denen während der Kulturrevolution die Massen politisch indoktriniert wurden.

Wie es auf diesen Versammlungen zugegangen sein könnte, davon vermittelt in der Ausstellung „Himmlischer Frieden (1919–2008)“ im Collegium Hungaricum ausgerechnet ein Film einen Eindruck, der 1969 in einigen tausend Kilometern Entfernung von den chinesischen Städten Gexian und Hongdu entstand. Das ungarische Drama „Agitatoren“ ist eine kodierte Auseinandersetzung mit den Studentenaufständen von 1968. Die Handlung spielt im Jahr 1919, als die Kommunisten in Ungarn die Macht ergriffen und eine Räterepublik proklamierten. In Budapester Fabrikhallen beginnt die kommunistische Propagandamaschine zu laufen: Enthusiastische junge Intellektuelle versuchen die Arbeiter und Bauern auf ihre Seite zu bringen. Ähnlich muss es vor vierzig Jahren in den chinesischen Versammlungshallen ausgesehen haben. „Die Kulturrevolution war die Ekstase von dem, was wir in Ungarn im Kleinen erlebt haben“, sagt János Can Togay, Direktor des Collegium Hungaricum.

Zwei sehr unterschiedliche Kulturen, erschüttert von in mancher Hinsicht ähnlichen revolutionären Bewegungen – das ungarische Kulturinstitut wagt den Versuch, die Gemeinsamkeiten der 133 Tage andauernden Räterepublik in Ungarn und der von 1966 bis 1976 währenden Kulturrevolution in China festzuhalten. Es ist eine ambitionierte und reizvolle Auswahl an künstlerischen Auseinandersetzungen mit der ungarischen und chinesischen Geschichte, die Veruschka Baksa-Soós, Leiterin der Moholy-Nagy Galerie des Instituts, zusammengetragen hat. Knapp geraten ist allerdings die textliche Begleitung der Ausstellung, die helfen könnte, die Denkanstöße der ausgestellten Werke aufzunehmen. Lediglich ein Informationsblatt gibt einen knappen Eindruck des Konzepts.

Der Titel der Ausstellung „Himmlischer Frieden (1919–2008)“ ist mit ironischer Distanz zu nehmen. Denn „Frieden“ war in der Geschichte Chinas und Ungarns häufig kein himmlischer, sondern ein künstlicher, durch Gewalt hergestellter Zustand. Dezsö Magyars Film „Agitatoren“, der unter den Kommunisten verboten war, und György Galántais „Kulturhügel“ (1992) thematisieren dies direkt. In den chinesischen Beiträgen hingegen gibt es keine direkten Verweise auf blutige Ereignisse wie das Massaker am Platz des Himmlischen Friedens 1989.

Ideale als Illusion

Die Haltungen der ausgestellten chinesischen Künstler sind schwer zu fassen, voller Ambiguitäten. Li Luming etwa, 1955 geboren, überführt Fotografien aus der Zeit der Kulturrevolution in ein neues Medium: Seine Ölgemälde zeigen fröhliche junge Menschen, in Armeemänteln oder bäuerlicher Kleidung, die voll Optimismus in die Zukunft zu blicken scheinen. Doch die Bilder sind unscharf, der Hintergrund gleicht einem Nebelmeer. Die Ideale der Kulturrevolution erscheinen als ungenaue Erinnerung, vielleicht gar als Illusionen.

Bei dem Ungar György Galántai dagegen geht Erinnerung ganz anders vonstatten. Sein Film zeigt eine fiktive Vernissage, zu der er 1992 die Teilnehmer der Kunst-Ereignisse in Balatonboglár eingeladen hatte. In der Stadt am Plattensee hatte Galántai Anfang der Siebzigerjahre Ausstellungen und Happenings in einer Kapelle organisiert, die er von der katholischen Kirche gemietet hatte und die schließlich von der Polizei geschlossen wurde. 20 Jahre später filmte er seine Kollegen von damals beim Betrachten von Dokumentarmaterial aus ihrer eigenen Vergangenheit. In ihren Gesprächen, so lässt es sich den englischen Untertiteln entnehmen, geht es häufig um Freiheit – um das Wegfallen von nationalen Grenzen und die Befreiung des Künstlers nach 1989.

Den jungen chinesischen Künstlern hingegen scheint die Hoffnung auf Freiheit noch ferner als ihren älteren Kollegen. Auf dem Bild „A Missionary No. 2“ des 1972 geborenen Wang Mai ist China zwischen verschiedenen Einflüssen gefangen. Ein Wesen mit großem Karl-Marx-Kopf und kleinem Tigerleib – ein Blick auf Wangs Installation „The Fertility of Capitalism“ legt eine Anspielung auf einen Mineralöl-Konzern nahe – sitzt in einem gepolsterten Sessel. Die Bodenhaftung scheint ihm verloren gegangen, stattdessen schiebt sich eine geballte Faust in den Vordergrund. Ein groteskes Szenario, das keinen Sinn und doch sehr viel Sinn ergibt und die Lage einer zerrissenen Gesellschaft auf den Punkt bringt. Einer Gesellschaft, in der die roten Banner mit den kommunistischen Parolen, die noch immer in den alten Versammlungshallen hängen, ebenso ihren Platz haben wie die modernen Werbebanner am neuen Olympiastadion, das Miao Xiaochun im vergangenen Jahr aufgenommen hat. Für János Can Togay hat dieses Foto eine besondere Bedeutung: „Die Olympiade ist der Grund, warum ich gerade diesen Sommer etwas zu China machen wollte“, erläutert der Direktor des Collegium Hungaricum. Mit solch aktuellen Themen will er das ungarische Kulturinstitut zu einem festen Bestandteil der Berliner Kunstszene machen.

Die Chancen dafür scheinen gut zu stehen. Denn dass der elegante Neubau hinter der Humboldt-Universität, den Togay und seine Mitarbeiter im Januar dieses Jahres bezogen haben, jemals den leeren Hallen auf Muchen und Shao Yinongs Fotos ähneln wird, kann man sich nicht recht vorstellen.

Bis 7. September in der Moholy-Nagy Galerie des Collegium Hungaricum (www.hungaricum.de)