Perfides Terrordesign

Die Opfer des Anschlags von Istanbul wurden auch zu Opfern ihrer Neugierde gemacht – um alle anderen Menschen in Angst und Schrecken zu versetzen. Die Täter setzen damit einen Trend fort

VON MARTIN REICHERT

Die Neugierde des Menschen gehört zu seinen hervorragendsten, schönsten Eigenschaften. Sie ist sowohl ein integraler Bestandteil seines Verstandes als auch ein wichtiger Bestandteil seines emotionalen Haushalts – die Lust auf Neues, die schiere Freude ob neuer Entdeckungen und Sensationen.

Genau diese Eigenschaft des Menschen macht sich der moderne Terrorist von heute zunutze, indem er sie als Käse in der Mausefalle nutzt: Bei dem jüngsten Bombenanschlag in Istanbul, in dessen Folge bislang siebzehn Menschen getötet und mehr als 150 verletzt wurden, zündete zunächst nur eine Bombe mit geringer Sprengkraft in einem Mülleimer – an einer belebten Geschäftsstraße im Istanbuler Arbeiterviertel Güngören. Erst die zweite, genau fünfzehn Minuten später gezündete Bombe hatte die volle Sprengkraft. Warum? Um möglichst viele eilig zusammengelaufene Neugierige – und Helfer – auf einen Schlag zu zerfetzen. „Viele Menschen kamen, um zu sehen, was los war“ berichtete ein Augenzeuge, der ein Schuhgeschäft in diesem Viertel betreibt.

Das tendenziell inflationär verwendete Wort von der „Menschenverachtung“ wird auf diese Weise mit atemberaubenden Inhalten gefüllt. Und doch gehen die Täter schlicht mit modernsten Mitteln vor. Es ist ein wenig, als ob diese Techniken einem Gutachten aus einer der „Angstabteilungen“ moderner (Pharma-, Versicherungs-)Unternehmen entsprängen. Abteilungen, in denen mit hohem Aufwand neue Ängste am Reißbrett entworfen werden, die anschließend mit firmeneigenen Produkten profitabel kuriert werden. Man fragt sich: Wo lassen diese Leute arbeiten? Werden im Vorfeld Harvard-Studien konsultiert oder Unternehmensberatungen aufgesucht? Dass die Terroristen ihre Hausaufgaben im Bereich Medien und Marketing gemacht haben, ist ja schon länger bekannt: Erst ab einer gewissen Anzahl von Todesopfern kommt man ins Fernsehen.

Doch das Geschäft des Terrors im Alltag ist vermutlich eher banal: Die verschiedenen Gruppen, ob nun jene von al-Qaida oder der PKK, schauen ganz einfach voneinander ab. Attentate speziell dieser Vorgehensweise hat es zuvor bereits in Israel und insbesondere im Irak gegeben, wenn auch mit graduellen Unterschieden. Im Irak zum Beispiel wurden Menschen mit einer kleineren Bombe nicht angelockt, sondern in gezielt erzeugter Panik in die Richtung der zweiten, größeren Bombe getrieben.

Wie dem auch sei: Eine solche Vorgehensweise macht sich die menschliche Neugierde nicht nur zunutze, sondern möchte sie auch im Keim ersticken – und in Angst transformieren. Ein eher unlustbetontes, negatives menschliches Grundgefühl, das einen klein hält und folgsam. Angst ist das Gegenteil von Neugierde.

Die Angst als Herrschaftsinstrument, als Mittel, um gewaltsam eigene Interessen durchzusetzen – neu ist das nicht, aber auch alte Besen kehren anscheinend immer noch verdammt gut. Gegen die Angst ist mancherlei Kraut gewachsen – vom chemischen Angstblocker bis zur Bauchatmung. Doch hilfreich kann auch der Griff zu philosophischen Hausapotheke sein. Für Georg Wilhelm Friedrich Hegel zum Beispiel gehört die Angst zum notwendigen Übergang auf dem Weg des Bewusstseins zum Selbstbewusstsein.

Den zahlreichen Toten von Istanbul – und Bagdad, wo am selben Tag 47 Menschen von Selbstmordattentäterinnen getötet wurden – nützt diese Weisheit nun bestimmt nichts mehr. Und hierzulande scheint man ohnehin andere Sorgen zu haben: Gleich im Anschluss an Meldungen über das Bombenattentat in Istanbul erneuerte das Auswärtige Amt seine Reisehinweise für die Türkei, schließlich ist Ferienzeit: Alles im grünen Bereich, abgeraten wird lediglich von Reisen in die östlichen Provinzen. Ansonsten sei die Türkei aber „ein beliebtes Reiseland, das Touristen herzlich und offen empfängt“. Dem entsprechend können laut Reiserechtsexperten trotz der jüngsten Anschläge Urlaubsflüge in die Türkei nicht storniert werden.

Gut so. Schließlich ist die Reise- und Abenteuerlust ein weiterer schöner Ausdruck menschlicher Neugierde. Fremde Länder und Kulturen kennenlernen, versuchen, aufeinander zuzugehen. Also auf nach Istanbul und Antalya. Ohne seine Neugierde würde der Mensch heute noch immer in der Höhle sitzen. So wie Ussama Bin Laden.