Abfuhr für die Autobahn

Erika Gutwirt ist eine von mehreren hundert BerlinerInnen, die mit der Verlängerung der Autobahn in Treptow ihre Wohnung verlieren würden. Die 67-Jährige wehrt sich gegen den geplanten Abriss

VON SVENJA BERGT

In zehn Minuten ist sie beim Augenarzt, zu ihrem Herzspezialisten muss sie nur ein paar Straßen weiter gehen. Ihre Freunde wohnen im Nachbarhaus und um die Ecke. Das Einkaufszentrum ist direkt gegenüber. Und der Kleingarten liegt gleich hinter dem Haus. Erika Gutwirt ist eine Frau der kurzen Wege. „Ich bin in meinem ganzen Leben schon genug gelaufen“, sagt die 67-Jährige.

Doch nun sieht sie sich gezwungen, einen sehr langen Weg auf sich zu nehmen: den Kampf gegen den Weiterbau der Berliner Stadtautobahn zwischen dem Dreieck Neukölln und dem Treptower Park. Gute drei Kilometer Autobahn, die nach Ansicht der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung einen entscheidenden Vorteil für den Berliner Verkehr bringen. Drei Kilometer, die nach Ansicht von Umweltschützern und den Grünen „absurd und unnötig“ sind. Drei Kilometer, die für Erika Gutwirt nicht weniger als ihren Lebensraum zerstören würden. Denn sie wohnt zusammen mit ihrem Mann in einem jener Häuser, die durch den Bau des Autobahnabschnitts vom Abriss bedroht sind.

Die Nummer 16 in der Treptower Beermannstraße ist ein sorgfältig sanierter Altbau. Zwei Hinterhöfe samt Seitenflügeln gehören dazu. Fahrradständer und Bänke stehen im Hof. „Dort haben wir letztens unser Hausfest gefeiert“, erzählt Erika Gutwirt und stößt eine Glastür auf. Hinter der in Pastelltönen gehaltenen Fassade liegt ein ordentliches und sauber gestrichenes Treppenhaus. Im Eingang steht ein Kinderwagen.

Erst vor sechs Jahren hat die Genossenschaft, der die Nummern 12 bis 18 gehören, die Häuser sanieren lassen. Jetzt droht auf jeden Fall der 18 die Abrissbirne, eventuell auch noch anderen. Die Angaben von der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und den Oppositionsfraktionen sind hier nicht einheitlich.

Noch mehr Verkehr

Der Senat plant, der Bund zahlt, zumindest den größten Teil. Ungefähr im Jahr 2015 sollen dann die Autos ungehindert über die Stadtautobahn – die A 100 – zum Treptower Park fahren können. 30.000 zusätzliche Fahrzeuge pro Tag erwartet der Senat. Das Ganze kostet den Steuerzahler nach aktuellen Berechnungen 443 Millionen Euro – im vergangenen Jahr plante man noch mit 312 Millionen. Dass der Bund davon über 80 Prozent übernimmt, veranlasst viele Landes- und Bezirkspolitiker, das Vorhaben unkritisch zu betrachten – vor allem im Hinblick auf die Folgen für die Anwohner. Schließlich versichert auch Manuela Damianakis, Sprecherin der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, dass es Ersatzwohnungen geben soll. In einer Antwort des Senats auf eine parlamentarische Anfrage der Grünen-Fraktion steht allerdings das Gegenteil: Nur bei besonderen Härtefällen werde man „gegebenenfalls“ einen Sozialplan erstellen.

Sollte es ihn geben, dürfte er wohl auch Erika Gutwirt zugute kommen. Doch all das ersetzen, was sie verlieren würde, könnte kein Sozialplan der Welt. Wenn die kleine, stämmige Frau mit den weißen Locken mit einer Türklinke in der Hand durch die Gegend läuft, weil das Gartentor aus Gründen des Einbruchschutzes keine Klinke hat, kann man sich vorstellen, wie sie dem verantwortlichen Menschen am liebsten eins mit der Klinke überbraten würde. Natürlich würde sie das nicht tun. Nicht nur, weil sie dafür viel zu friedfertig ist, sondern auch, weil ihr Gegner zu abstrakt ist.

Seit 63 Jahren wohnt Erika Gutwirt in der Beermannstraße. „Im Krieg hat man uns auf der Wiese an der Straßenecke zusammengetrieben. Und uns dann auf die Wohnungen verteilt: Drei Familien in eine Dreizimmerwohnung“, erzählt sie. Die anderen ziehen im Laufe der Jahre weg, sterben oder gehen in den Westen. Sie bleibt. Zunächst mit ihrer Familie, dann mit ihrem Mann. Und sie bringt es von einem Zimmer für eine ganze Familie zu einer 89-Quadratmeter-Wohnung zu zweit. Von „nicht mal Schuhe an die Beene und Kartoffelschalen zum Mittag“ zu einem Paar, das nicht jeden Cent umdrehen muss. Von dem vierten Stock in den zweiten – der einzige Umzug in sechs Jahrzehnten.

Jetzt ist der zweite in Sicht, einer, vor dem sie Angst hat, auch wenn sie das so nicht sagen würde. „Man muss sich nicht alles gefallen lassen“, stellt sie zu Anfang des Gesprächs klar, und später: „Mich muss man hier im Sarg raustragen.“ Diesen Satz sagt sie oft in diesen Tagen, er kommt auch ziemlich gut an. Bei den Nachbarn, die zustimmend nicken; auch bei dem Vertreter der Bürgerinitiative Stadtring Süd, der anerkennend auf die ältere Dame blickt.

Der Garten – eine Idylle

Dabei ist die Wohnung nicht einmal das größte Problem. Oder vielleicht doch? So sicher ist sich Erika Gutwirt da nicht. Denn: Hinter dem Haus liegt der Kleingarten des Paares. Der Rasen kurz, grün und frisch, die Bänke in knallig bunten Farben, die Pflanzen gedüngt und gepflegt. Wenn Erika Gutwirt durch das knarrende Gatter auf den Rasen tritt, richtet sich die kleine Frau noch ein Stück weiter auf. Ihr Gesicht entspannt sich, ihre Augen glänzen, auch in die Erinnerung an frühere Tage. Seit mehr als 20 Jahren haben sie und ihr Mann den Garten, zahllose „Feten“ und Geburtstage haben sie dort gefeiert. Im Sommer verbringt Erika Gutwirt mehr Zeit hier draußen als in ihrer Wohnung. Für sie und ihren Mann ist das Stück Grün nicht mehr nur eine Oase, sondern ihr zweites Zuhause – mindestens.

Für die Stadtplaner ist es nur ein Garten unter vielen: Insgesamt rund 300 Kleingärten sollen der Autobahn weichen. Eine Nachbarin kommt vorbei, sie erzählt von einer Entschädigung, die der Bund den Besitzern in Aussicht gestellt habe. „Aber unter der Bedingung, dass man die Entschädigung für den Umzug verwendet.“ Erika Gutwirt schüttelt den Kopf. Sie glaubt nicht an eine Entschädigung – nicht für den Garten und nicht für die Wohnung. „Und wie sollen wir als ältere Leute noch rumlaufen und eine neue suchen? Was da alles dazugehört: neue Auslegware, neue Gardinen, neue Lampen!“ Ihr Mann nickt. Und blickt auf seine Sammlung von Miniaturautos, die hinter der Tür an der Wand hängt.

Senat: Umzug muss sein

Die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung sieht das Problem der Gutwirts nicht. „Es ist natürlich immer schwierig, wenn man lange Zeit am selben Ort gelebt hat. Aber ich denke, die Umzugshilfen werden das gut abfedern“, sagt Sprecherin Manuela Damianakis. Es klingt, als sei an der Tatsache des Autobahnbaus und des zwingenden Umzugs nicht mehr zu rütteln.

Damit will sich Erika Gutwirt nicht abfinden. Sie stört sich nicht nur an der Planung, sondern auch an einer mangelnden Information der Anwohner. „Wenn uns keiner informiert, müssen wir uns eben selber informieren“, schließt sie daraus. Wie lange sie schon von den Planungen weiß, kann sie nicht sagen. Mehr zufällig habe sie aber davon erfahren. Und losgelegt. Sie redet mit Nachbarn und geht neuerdings auch zu Versammlungen ins Treptower Rathaus. Überlegt, dass, wenn es doch so weit kommt, dass sie ausziehen müssen, die gesamte Nachbarschaft für einen Anwalt zusammenlegt. Um zumindest das Beste herauszuschlagen. „Die macht das, die Erika“, sagt einer ihrer Nachbarn aus der Gartenkolonie. Auch wenn sie das Klagen und Plakatekleben der Bürgerinitiative und den Umweltverbänden überlässt, die den Protest dagegen organisieren – Erika Gutwirt ist eine, die die Nachbarn zusammen und auf dem Laufenden hält.

Vom Garten aus weist sie auf einen brachliegenden Platz in der Nähe der S-Bahn-Strecke. „Warum bauen die da nicht einen Neubau hin, in den wir einziehen könnten, dann müssen wir nicht weg?“, fragt sie. Diese Frage will sie auch am Donnerstag stellen. Im Treptower Rathaus soll dann über die Kleingärtenkolonien gesprochen werden – eigentlich nicht in Zusammenhang mit dem Autobahnbau. Doch Erika Gutwirt hat sich ganz fest vorgenommen, das Thema trotzdem auf die Tagesordnung zu bringen. Zusammen mit ihren Nachbarn.