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Archiv-Artikel

Rennen statt demonstrieren

Hürdenläuferin Carolin Nytra ist die einzige deutsche Solo-Sprinterin in Peking. Zu Saisonbeginn hat sie die Olympianorm für unerreichbar gehalten. Neunmal hat sie die inzwischen unterboten

VON BENNO SCHIRRMEISTER

Carolin Nytra ist derzeit die beste deutsche Sprinterin. Dafür gibt’s Belege: Die für den Bremer LT / Komet Arsten startende Athletin ist am Mittwoch in Leverkusen mit 12,82 Sekunden schon wieder eine deutsche Jahresbestzeit über 100 Meter Hürden gerannt. Bei Olympia wird sie die einzige deutsche Solo-Sprinterin sein. Und sogar die Hamburger Lokalzeitungen mögen die 23-Jährige wieder.

Vor vier Jahren war das anders: Nytra schaffte damals die 100 Meter Hürden in rund 13,6 Sekunden, wurde sechste bei der Junioren EM, war Maskottchen der Hamburger Sparkasse – und wechselte den Verein. Im Abendblatt wurde das als „Schlag ins Gesicht“ gewertet. Und ihr „tief enttäuschter“ Ex-Trainer durfte lamentieren, dass er doch „alles für seinen Schützling getan“ habe. Dabei hatte er ihr gesagt, er sehe kein allzu großes Potenzial mehr – der Bremer Landestrainer Jens Ellrott bewertete das ganz anders.

Mittlerweile ist klar: Ellrott hatte recht. Aber so eindeutig war das lange nicht. Im ersten Bremer Jahr gab’s kleine Fortschritte, im zweiten Stagnation. 2007 ist Nytra dann deutsche Meisterin geworden. Aber ihre Bestzeit lag noch immer bei 13,17 Sekunden – zweieinhalb Zehntel zu langsam für einen Start bei der WM. Oder Olympia. Zweieinhalb Zehntel – im Sprint sind das Welten. Für Nytra waren diese zweieinhalb Zehntel ein Fernziel für 2009, um wenigstens bei der WM im eigenen Land dabei zu sein. Peking? „Im März“, sagt Nytra, „habe ich noch nicht daran gedacht, die Norm zu schaffen.“

Hat sie dann aber. Neunmal schon: Zuerst am 1. Juni beim Berliner Istaf-Meeting mit einer Punktlandung bei 12,92 Sekunden. Eine Woche später in Kassel gleich zweimal. In Nürnberg hat sie am 5. Juli ihren Meistertitel mit 12,87 verteidigt. Und jetzt liegt ihre Bestzeit bei 12,82. „Wir haben im Training“, sagt sie, „ein paar neue Methoden ausprobiert und zwei zusätzliche Einheiten aufgenommen.“ Dass das „so viel gebracht hat“, sagt auch Nytra, „hat uns selbst überrascht“.

Der Abstand zur Weltspitze ist noch deutlich. Aber er ist kleiner, als er vor 20 Jahren gewesen wäre: Der Weltrekord der bärtigen Bulgarin Jordanka Donkowa liegt bei 12,21 – aufgestellt im August 1988. Und Bettine Jahn, die den Deutschen Rekord mit 12,42 seit 25 Jahren hält, hat 2005 ausgesagt, alle „Mittel zur Leistungssteigerung“ zwar auf Anraten ihres Trainers regelmäßig, aber stets „freiwillig und ohne Zwang“ genommen zu haben. Das Scheitern des Sozialismus hat viel Tempo rausgenommen aus dem 100 Meter-Hürdenlauf. Unter regulären Bedingungen hat seit acht Jahren keine Frau die Strecke in weniger als 12,30 Sekunden geschafft.

Unerreichbare Rekorde sind demotivierend: „Damit darf man sich gar nicht beschäftigen“, sagt Jens Ellrott. „Das war noch nie ein Thema bei uns.“ Wo doch gerade Hürdenlauf die Kunst ist, Störendes auszublenden: „Keine Disziplin ist anfälliger für Konzentrationsfehler“, sagt er.

Als „gefährlich“ hatte er deshalb auch die Situation bei der diesjährigen DM eingestuft: Das Hürden-Finale war gleichzeitig mit den letzten Weitsprung-Durchgängen – und damit Sebastian Bayers letzte Chance, sich für Peking zu qualifizieren. Bayer ist Nytras Freund. „Zu Hause war das ein Dauerthema“, sagt sie. Aber auf der Bahn hat sie dann doch nur ans Rennen gedacht: „Olympiateilnahme ohne Meistertitel – das wollte ich mir nicht geben.“

Peking, China, Menschenrechte? Die Boykottdiskussion habe sie „stark beschäftigt“, sagt Nytra – aber nur „im Frühjahr“, als die Frage eine rein theoretische war. Dass die Olympioniken sich aller politischen Kommentare zu enthalten haben, findet sie okay: „Was“, frage sie sich, „kann denn der Sport daran ändern?“ Sie jedenfalls werde sich nicht aus dem Fenster hängen: „Wenn jeder eine Gelegenheit zum Demonstrieren nutzt, ginge ja der Fokus verloren.“

Ihr Fokus liegt auf dem Sport. Und Ziele definiert hat sie auch. Medaillen nein, aber Halbfinale, das hält sie für machbar. „Und wenn es mir da gelingt, meine Bestzeit anzugreifen, ist das Finale möglich.“