Die Spätfolgen

Ein Briefzusteller half seiner kranken Freundin, statt Bußgeldbescheide auszuliefern. Das Amtsgericht zeigte Nachsicht

Im Hamburger Amtsgericht sitzen fünf Journalisten im Publikum. Es ist Sommerloch und wer weiß, was hinter der Anklage steckt: Herr W. soll in zehn Fällen Bußgeldbescheide nicht ausgeliefert und dennoch die ordnungsgemäße Zustellung eingetragen haben. Vielleicht, so denken die Journalisten, ist Herr W. eine Art Robin Hood der Bußgeldbescheid-Empfänger, der ihnen den Zorn ihrer Gläubiger ersparen will.

Herr W. ist 39 Jahre alt. Er trägt eine schwarze Lederjacke und betrachtet die Staatsanwältin, die mit lauter Stimme die Anklage verliest. „Es stimmt, das hab’ ich getan“, sagt er. „Warum?“, fragt der Richter. „Ich glaube, das werden Sie nicht verstehen“, sagt Herr W. und erklärt dann doch: „Der Alkohol ist schuld.“

Seine damalige – die Taten liegen fast zwei Jahre zurück – und jetzige Lebensgefährtin sei Alkoholikerin und manisch-depressiv gewesen. Sie habe nachts als Altenpflegerin gearbeitet. Tagsüber habe sie angerufen und um Hilfe gebeten. „Ich musste zu ihr hin, um ihr zu helfen, nicht zu trinken oder aus dem Parkhaus rauszukommen“, sagt Herr W.

„Wenn Eile geboten war, ließen Sie also den Job beiseite und dachten...“, sagt der Richter. „Ich habe nicht viel gedacht“, sagt Herr W. Aber jetzt sei seine Lebensgefährtin seit vier Monaten trocken und in Therapie. Das sei auch er, der an den Spätfolgen zu tragen habe.

Herr W. hat inzwischen bei dem Postdienst gekündigt und ist Hartz IV-Empfänger. Er spricht leise und schnell. Er möchte alles mitteilen, was für ihn spricht. Also erklärt Herr W., dass er versucht habe, die Geschädigten zu erreichen, um die Mahngebühren für sie zu tragen, aber dass er ihre Telefonnummern nicht bekommen habe.

Die Staatsanwältin hat einen Auszug aus dem Bundeszentralregister dabei, aus dem hervorgeht, dass Herr W. 2004 wegen Urkundenfälschung und Betrugs zu einer Geldstrafe verurteilt worden ist. „Das war ’ne Dummheit“, sagt Herr W. Seine Freundin habe eine Versicherung abschließen wollen und als ihre Unterschrift erforderlich war, während sie im Urlaub war, habe er für sie unterschrieben.

Die Staatsanwältin hält dem Anklagten sein Geständnis zugute, die schwierigen persönlichen Verhältnisse und den Versuch, sich zu entschuldigen. Dennoch findet sie angesichts der Vorstrafe nicht, „dass eine Geldstrafe sein Verhalten ausreichend sanktioniert“. Sie fordert ein Jahr Haft auf Bewährung und 80 Stunden gemeinnützige Arbeit. Herr W. fährt sich über den Kopf.

Der Richter findet nicht, dass eine Haftstrafe zur Beeinflussung von Herr W. notwendig ist. Er verurteilt ihn zu 180 Tagessätzen à sieben Euro. Herr W. fragt, ob er das Urteil sofort annehmen dürfe. „Ja“, sagt der Richter. „Jetzt warten wir, was die Staatsanwältin sagt.“ FRIEDERIKE GRÄFF