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Archiv-Artikel

Der Schlüssel heißt Emotion

Was aus den Kindern wurde, die nach dem gescheiterten Warschauer Aufstand mit ihren Eltern nach Deutschland deportiert wurden: Die Gedenkstätte Bergen-Belsen zeigt erstmals hierzulande die polnische Ausstellung „Banwar 1944“

VON PETRA SCHELLEN

Ja, es stört, das Rattern der Video-Geleise. So sehr, dass man sich fast wieder davonstehlen möchte aus dieser Ausstellung, „Banwar 1944 – Vertrieben aus Warschau – Kinderschicksale“, die derzeit in der Gedenkstätte Bergen-Belsen gezeigt wird. Organisiert vom Historischen Museum in Warschau, unterscheidet sich ihre Ästhetik beträchtlich von der, die man von deutschen Ausstellungen zum Thema kennt: Eine Wand haben die Kuratoren zum Beispiel mit Videos bestückt, auf denen die zerstörte Stadt, Kinderköpfe sowie jene lärmenden Bahngeleise in Endlos-Schleife zu sehen sind. Auch einen Tisch aus der Vorkriegszeit mit gerahmten Kinderporträts hat man aufgestellt.

Sentimental wirkt das, zumindest auf den ersten Blick. Dann wiederum ist die EU-geförderte Ausstellung als Antwort auf die deutsche Diskussion über ein „Zentrum gegen Vertreibungen“ vor rund zwei Jahren gedacht. Erstmals werden hier Zeugnisse von Menschen präsentiert, die damals Kinder waren. Es ist auch das erste Mal, dass eine größere Ausstellung in Deutschland so explizit über die Folgen des Warschauer Aufstands berichtet, den die polnische Untergrundarmee „Armia Krajowa“ am 1. August 1944 gegen die deutschen Besatzer startete. Der Aufstand dauerte 63 Tage, kostete 200.000 zivile Opfer und wurde von den Besatzern niedergeschlagen. Wer überlebte, wurde vertrieben und ins Deutsche Reich deportiert. Noch während die Polen ihre Häuser verließen, begannen die Deutschen, Warschau dem Erdboden gleichzumachen – zu 95 Prozent.

Über diese Vorgeschichte der Vertreibungen spricht die „Banwar“-Ausstellung nicht. Das tun auch deutsche Vertriebene nicht. Trotzdem ist bedauerlich, dass hier die Chance vertan worden ist, über das deutsche Argumentationsniveau hinauszuwachsen. Dabei ist der Impuls verständlich, die Leiden der polnischen Vertriebenen zu illustrieren. Die Ausstellung ist hoch emotional: Sie präsentiert von Kinderhand verfasste Tagebücher, verfasst im KZ oder gleich nach Kriegsende, Spielzeuge und Fotos, Briefe und Armbinden 14-jähriger Untergrundkämpfer. „Uns ist wichtig, dass die Ausstellung berührt“, sagt Izabella Maliszewska, Kustodin am Warschauer Historischen Museum. Sie hat die Schau konzipiert – basierend nicht nur auf zeitnah verfassten Berichten, sondern auch auf im Nachhinein niedergelegten Erinnerungen.

Die Palette der ausgestellten Schicksale ist breit: Etliche wurden als Zwangsarbeiter, andere als Kriegsgefangene oder KZ-Häftlinge nach Deutschland deportiert. Was aber bislang kaum bekannt war: dass Bergen-Belsen nicht nur KZ und Kriegsgefangenenlager war, sondern auch Durchgangslager für Menschen, die zur Zwangsarbeit geschickt werden sollten. Das konnten auch Kinder sein: Der Historiker Karl Liedke von der Bergen-Belsener Gedenkstätte hat bei Recherchen die Arbeitsbescheinigung einer Vierjährigen gefunden.

Dass sich die Gastausstellung Kindern widmet, passt gut ins Konzept der Gedenkstätte: „In Bergen-Belsen waren erstaunlich viele Kinder – zeitweilig bis zu 3.000. Das gab es sonst nur in Lagern speziellen Zuschnitts – in Ravensbrück und Theresienstadt etwa“, sagt Gedenkstättenleiter Thomas Rahe. Die Warschauer Ausstellungsmacher haben aber auch einen Grund für ihre Schwerpunktsetzung: „Da Kinderschicksale universell sind, können wir so vielleicht Menschen auch außerhalb Polens für das polnische Vertriebenenthema interessieren“, sagt Maliszewska. Zudem brächten Berichte von Kindern oft neue Erkenntnisse: „Kinder beschreiben Details, die für Erwachsene belanglos sind.“

Die zehnjährige Teresa Rożycka etwa beschreibt jene weißen Zelte, die es in Bergen-Belsen für Neuankömmlinge gab. „Dieses Mädchen war sozusagen Mithäftling von Anne Frank“, sagt Thomas Rahe: Anne Frank und ihre Schwester Margot sollten eigentlich nur kurz im Lager bleiben, waren zur Zwangsarbeit vorgesehen. „Warum sie hier blieben, wissen wir nicht“, sagt Rahe. Bekannt ist nur, dass die Schwestern wohl an Typhus starben.

Die „Banwar“-Ausstellung ist zweifellos ein wichtiges Dokument polnischer Vergangenheitsbewältigung. In Warschauer Schulen etwa las man Kindern Zitate der Deportierten vor und ließ sie dazu Bilder malen, die mit ausgestellt sind. Die gezeigten Vertriebenen-Fotos wiederum arbeiten mit einer Ästhetik, die aus der deutschen Diskussion sattsam bekannt ist. Gerade darin liegt der Erkenntnisgewinn: Hierzulande ist das Vertriebensein bislang von vielen als deutsches Privileg betrachtet worden. In der Ausstellung aber ist es zu sehen: dass die Warschauer aus ihren Häusern geholt wurden, vor denen schon Benzinkanister standen, damit sie schnell abgebrannt werden könnte.

Mit ihrem Aufenthalt im KZ Bergen-Belsen endet aber nicht die Geschichte polnischer Deportierter: Nach Kriegsende gab es in Bergen-Belsen neben dem jüdischen auch ein polnisches Camp für „displaced persons“ (DP), also Zivilpersonen, die sich bei Kriegsende außerhalb ihres ursprünglichen Heimatlandes wiedergefunden hatten. Vor einigen Monaten erst wurde die Dauerausstellung der Gedenkstätte um eine Abteilung dazu erweitert. „Über dieses Camp wussten wir bisher sehr wenig“, sagt Leiter Rahe. „Wir wussten aus Berichten jüdischer DPs zwar, dass auch Polen dort waren. Dokumente, die dies bezeugten, gab es aber nicht.“

Historiker Karl Liedke, mit dem Aufbau der polnischen Abteilungen betraut, fand während der vergangenen Jahre Dokumente, die die Existenz dieses Camps bis 1946 belegen. Gründungsprotokolle des DP-Komitees sind hier zu sehen, Fotos, maschinengeschriebene Seiten zweier Zeitungen. „Natürlich war das polnische DP-Camp nicht so wichtig wie das jüdische“, sagt Liedke. Trotzdem habe es „zu den größten in Norddeutschland“ gezählt: „Dort lebten bis zu 1.000 Menschen.“

Warum es ein solches Camp überhaupt geben musste? „Weil hier etliche Soldaten der Untergrundarmee inhaftiert waren, deren Aufstand sich ja auch gegen die Sowjetunion richtete“, sagt Liedke. „Diese Menschen mussten im kommunistischen Nachkriegspolen Repressalien seitens der Sowjetunion befürchten.“ Während kommunistische Organisationen für die Rückkehr warben, warnte die polnische Exilregierung in London davor. Entsprechende Flugblätter und Broschüren finden sich nun in den Bergen-Belsener Vitrinen.

Befürchtungen waren dabei durchaus begründet: „1946 lud die Sowjetunion ranghohe Mitglieder der Untergrundarmee nach Moskau ein“, sagt Liedke. „Offiziell zu politischen Gesprächen. Als sie ankamen, wurden sie verhaftet und nach einem Schauprozess verhaftet oder zu Lagerarbeit verurteilt. Viele starben.“ Zwei Drittel der polnischen DPs aus der britischen Besatzungszone gingen trotzdem zurück, die übrigen emigrierten in die USA oder nach Kanada.

Die Ausstellung „Banwar 1944“ ist bis 21. Oktober in der Gedenkstätte Bergen-Belsen zu sehen. Die Präsentation zum polnischen DP-Camp ist Teil der dortigen Dauerausstellung