: „Das ist nicht haltbar“
Ernst Hallier, medizinischer Sachverständiger, wundert sich, dass neutrale Gremien missachtet werden
ERNST HALLIER, 56, ist Direktor des Instituts für Arbeits- und Sozialmedizin der Uni Göttingen und Vorsitzender des med. Sachverständigenbeirats beim Bundesministerium für Arbeit.
taz: Herr Hallier, das Landessozialgericht Baden-Württemberg hat in seinem Urteil den Inhalt des Merkblatts 1317 zur Berufskrankheit als nicht belegbar abgetan. Muss die Arbeit des Beirats nicht ernster genommen werden?
Ernst Hallier: Ein Merkblatt hat keinen Gesetzescharakter. Es dient nur lediglich Handlungsanleitung für Mediziner, damit diese auf Symptome von Berufskrankheiten überhaupt aufmerksam werden. Insofern ist das Gericht formal nicht an dieses Schreiben gebunden.
Stattdessen folgten die Richter der Argumentation von Gutachtern, die für die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV) tätig sind, jenem Verband, dessen Mitglieder bei Anerkennung einer Berufskrankheit zahlen müssten. Erkennen Sie hierin einen Interessenkonflikt?
Ein Gutachter muss stets unabhängig sein, egal ob er im Auftrag eines Gerichts oder einer öffentlichen Körperschaft wie der DGUV begutachtet. Das möchte ich auch im vorliegenden Fall nicht in Abrede stellen. Problematisch ist das Urteil aber in der Tat. Es stellt die Grundlagen für die Arbeit des Sachverständigenrats – einer eindeutig neutralen Einrichtung – infrage. Die inhaltliche Kritik am Merkblatt entbehrt zudem jeder Grundlage. Im Merkblatt aus dem Jahr 2005 wurde festgestellt, dass sich die Krankheit auch nach Unterlassung der gefährdenden Tätigkeit noch verschlechtern könne. Dies schließe eine Verursachung durch Lösungsmittel nicht aus. Und genau diese seinerzeit korrigierte Feststellung wird nun vom Gericht infrage gestellt.
Die Aussage wurde ins Gegenteil verkehrt: Werden die Symptome nach Ende der Tätigkeit nicht schnell besser, könne es sich nicht um eine Berufskrankheit handeln. Merkwürdig?
Das ist nicht haltbar. Gifte, denen ich nicht ausgesetzt bin, können zwar auch nicht mehr lange wirken. Aber nehmen wir einen Knieschaden, der beim Skifahren entstand. Auch wenn ich nicht mehr Ski fahre, kann das Knie noch schlimmer werden, zum Beispiel durch Fußballspielen. Aber die Schädigung ist trotzdem beim Skifahren entstanden. Und aus dem gleichen Grund kann auch eine teilursächliche Schädigung durch die berufliche Tätigkeit nicht ausgeschlossen werden, bloß weil die Symptome lange danach noch schlimmer werden.
Das Gericht folgt stattdessen dem Argument, die Schädigung könne ja auch jenseits des Arbeitsplatzes erfolgt sein. Zu Recht?
Es gibt viele Faktoren, die solch eine Krankheit verursachen können. Unter anderem auch Alkoholmissbrauch, Vitaminmangel, Zucker- und Infektionskrankheiten. Wer daraus aber automatisch schließt, dass Gifte am Arbeitsplatz als Ursache ausgeschlossen werden könnten, urteilt voreilig.
Gemäß dem DGUV-Report zur Berufskrankheit 1317 folgt das Gericht auch einem Gutachter, der sagt, nur zwei Stoffe verursachten die Krankheit. Ist das nicht ein wenig einseitig?
Diese These ist, vorsichtig ausgedrückt, sehr, sehr konservativ. Das Nervensystem kann durch viele Einflüsse geschädigt werden. In nur wenigen Fällen lässt sich sagen, dafür ist genau dieser oder jener Stoff verantwortlich. Die meisten Betroffenen waren im Beruf Lösungsmittelgemischen ausgesetzt. Deshalb bezieht sich die BK 1317 ganz bewusst nicht bloß auf einen oder zwei Stoffe.
INTERVIEW: LARS KLAASSEN