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Archiv-Artikel

Der letzte Hafen

Der vierte Stock der Seemannsherberge neben dem Hamburger Michel ist zu einem unfreiwilligen Altersheim geworden. Die Zimmer sind winzig, doch manche der Seeleute wohnen mehr als zehn Jahre dort

Klaus‘ schlichtes Bett ist nicht breiter als ein Meter. „Wir sind das von der See gewohnt“, sagt er. Da hatte er nur eine Klappbank.

VON KRISTIANA LUDWIG

Viel ist noch nicht los an diesem Donnerstag, Klaus kommt heute ein bisschen später. Im Hinterhof des Hamburger Seemannsheims stehen zwei Tische, darauf Kaffee aus Plastikbechern und Fertigkuchen. Es ist Seemannssonntag, wie jeden Donnerstag. Auf den Bänken sitzen ein paar Mitbewohner und unterhalten sich. Klaus entscheidet sich für einen Plastiksessel, gegenüber von Wolfgang, an dessen Stuhl heute Krücken lehnen. Wie kommt der Blödmann zu den Krücken, fragt er sich.

„Ein Unfall mit der leichten Kavallerie“, sagt Wolfgang. Ein Fahrrad habe ihn zu Fall und dann ins Krankenhaus gebracht. Aber nicht lange. So schnell wie möglich sei er wieder nach Hause gefahren. Ein fahrerflüchtiger Radler bringt ihn nicht um seine Unabhängigkeit. Klaus hört zu und nickt. Die beiden Männer sind sich ähnlich. Sie wirken zerbrechlich, sind ergraut und ihre Gesichter zerfurcht.

Im Seemannsheim ist eine Unterkunft für Seeleute, auch wenn dort inzwischen genauso Touristen und Jugendgruppen übernachten. Durchschnittlich bleiben die Gäste 4,3 Tage. Die Mitarbeiter möchten die Seeleute unterstützen, durch „psychosoziale Gespräche“, aber auch bei behördlichen Briefwechseln und bei der Jobsuche.

Die Herberge am Fuß des Michels gibt es seit 1952. Die Rückwand der Eingangshalle ist verglast, helles Licht fällt auf das gelbliche Linoleum. Ein paar Sessel stehen herum und ein niedriger Tisch. Ein paar Gäste sind an der Rezeption, ein älteres Ehepaar, eine Handvoll Jugendlicher. Einige Afrikaner sind auf der breiten Treppe unterwegs, die vom Foyer nach oben führt. Einer wartet unten, hat sein Handy am Ohr und spricht schnell und laut. Er muss bald anheuern, Geld verdienen. Um seine Familie in Ghana zu versorgen.

„Klaus?“ Ein älterer Mitarbeiter an der Rezeption braucht eine Weile, um sich den Mann ins Gedächtnis zu rufen. Er überlegt laut, geht Namen durch, ruft einen anderen an. Schließlich kann er sich erinnern: „Das ist so ein stilles Kerlchen, der schleicht hier so herum.“

Seit 13 Jahren wohnt Klaus im Seemannsheim. Er ist 64 Jahre alt, schmal und klein, ein wenig wackelig auf den Beinen. Er geht langsam, seine Bewegungen sind vorsichtig und ruhig, seine Wangen eingefallen. Er wirkt älter.

21 Jahre ist er zur See gefahren, dann musste er an Land, seinen Sohn versorgen nach der Scheidung. Als sein Sohn erwachsen wurde, zog er ins Seemannsheim – und blieb dort hängen.

Oben im vierten Stock sieht es anders aus als im Rest des Gebäudes. Während in den unteren Etagen leere, weiße Flure zu modern eingerichteten Zimmern führen, endet das Treppenhaus bei einer hölzernen Sitzecke mit einer großen Eckbank. Der massive Tisch ist mit Blümchendecke und kleinen Gartenzwergen geschmückt, durch die Dachfenster blickt man auf den Michel. „Willkommen im Hochsicherheitstrakt“, sagt Klaus. Er ist mit dem Fahrstuhl gekommen, Baujahr 1952. Die Bewohner der Zimmer hier oben sind Dauergäste, kaum einer ist jünger als 50. Renoviert wurde noch nicht, die Männer selbst wollten keine Veränderung.

Klaus hat eines der größeren Zimmer. Zwischen einen Kleiderschrank und ein grau gestreiftes Sofa passt noch ein Tischchen. Auch einen Kühlschrank hat er untergebracht. „Proviant hab ich immer genug“, sagt er, als er die Kühlschranktür öffnet. Auf einem dunkelbraunen Wandregal stehen Vitaminpräparate.

Die Küche auf dem Flur muss Klaus nicht benutzen: Auf einem Stuhl liegt ein brotkorbgroßes, weißes Maschinchen – ein kleiner Backofen mit Stromkabel. Den stellt er auf die Fensterbank seiner Dachluke: eine selbst gemachte Dunstabzugshaube. Klaus hat vieles aufgehoben und wenig gelüftet. Sein schlichtes Bett ist nicht breiter als ein Meter. „Wir sind das von der See gewohnt“, sagt er. Da hatte er nur eine Klappbank.

Auch in den kleineren Dachzimmern, in die ein Tisch nicht mehr hineinpasst, arrangieren sich die Männer. An diesem Tag knallt die Hitze auf die oberste Etage. „Ich lass ja die Tür auf“, sagt einer, der in Boxershorts über den Flur schlappt. Ein anderer hat Besuch bekommen, der untersetzte Senior klemmt auf einem Holzstuhl, sein Freund, ein dünner Kerl im selben Alter, hat sich auf das Bett plumpsen lassen. Es ist eng zu zweit, aber die beiden stört das nicht. Der Gastgeber wohnt hier länger als alle anderen. Seit neunzehn Jahren. Sprechen möchte er nicht darüber. Vielleicht später, sagt er.

Im Seemannsheim lebt es sich günstig. 11 Euro kostet die Nacht, für die Dauergäste gibt es einen Pauschalpreis von rund 250 Euro im Monat. Eigentlich möchte Geschäftsführerin Gisela Weber in Zukunft weniger Senioren beherbergen. Sie denkt daran, Neueinzüge nicht mehr zuzulassen: „Wir wollen kein Altenheim werden“, sagt sie.

Sie hatte sich das schon beim Einzug der jetzigen Bewohner vorgenommen. „Bleib hier, aber du musst dir was suchen“, hat sie zu den Neuankömmlingen gesagt. Und so erzählt ihr Rentner Wolfgang schon seit seinem Einzug vor vier Jahren von einer Umschulung – die er immer wieder verlängert.

Armin ist heute guter Dinge. Braun gebrannt, in kurzen Hosen und Muskelshirt schwoft der ergraute Matrose über den Flur. Seine Nase leuchtet rot, bald möchte er nach Mallorca. Oder wieder auf See. „Ich mach nicht Heia, ich geh jetzt auf‘n Kiez und dann knack knack!“, schallert er aus seiner Tür. Seine Zimmernachbarn antworten nicht.

Streit gibt es manchmal, erzählt Klaus. Besonders einen stört jede Fliege an der Wand: „Der kriegt dann ab und zu mal ne Backpfeife, dann weiß er wieder Bescheid“, sagt Klaus. Er spricht langsam und leise, seine Schultern hängen. Doch wenn er etwas deutlich machen will, fahren seine Arme durch die Luft.

Von Gemeinschaft möchte hier niemand sprechen. Kein Vergleich sei der vierte Stock mit dem Leben an Bord. „Die sind alle Einzelgänger, die mussten so oft ‚Auf Wiedersehen‘ sagen und so oft ‚Guten Tag‘“, schätzt Geschäftsführerin Weber.

Ab fünf öffnet die hauseigene Bar. Der grünlich gestrichene Kneipenraum ist größer als der sanierte Speisesaal nebenan. Es gibt Billiardtische, gedämmtes Licht und Rettungsringe an den Wänden, es darf geraucht werden. Hier treffen sich die Seeleute. „Die sind hier unter ihresgleichen“, sagt Weber.

Ab und zu bietet das Seemannsheim Ausflüge an. Mal einen Besuch im Theater, mal einen Grillabend. Vor ein paar Jahren sind sie gemeinsam in die Weihnachtsmesse gegangen. Schick gemacht, in Anzug und Krawatte, setzten sich die Seemänner auf die Bänke im Michel. Die Orgel spielte, der Gottesdienst begann und irgendwann schlief der Bewohner neben Weber ein. Später schnarchten auch andere.

Es gibt viele Gründe, im Seemannsheim zu wohnen, erklärt Weber. Einige haben Probleme oder sind einsam. Es gibt Rentner und es gibt Ältere, die auf einen Job hoffen. Einige bekommen Überbrückungsgeld und warten, dass ihnen mit 65 die Rente ausgezahlt wird. So wie Klaus. Er möchte später in ein betreutes Wohnen gehen, in Tiefstack: „Da ist dann gleich die Elbe, da werf’ ich dann die Angel aus“, Klaus angelt mit dem Arm in der Luft. Wann genau er das Seemannsheim verlassen will, kann er aber noch nicht sagen: „Immer mit der Ruhe. Easy …“

Viel lieber erzählt er von seiner Zeit an Deck, auf den Meeren. Verantwortlich für jede Schraube, die sich dreht, sei er gewesen. Und auf Weltreise. An Land, bei den Mädchen auf dem Kiez, hatte er immer einen Zwillingsbruder – und wurde Lügen-Klaus genannt. Zur See fahren wollte er schon immer, sagt Klaus. „Wenn ich etwas anfange, dann mache ich‘s zu Ende.“

Im Hinterhof sind die Stühle mittlerweile besetzt. Die Gäste schauen auf das übrig gebliebene Rasenstückchen zwischen den Hauswänden, ein Seemannsrentner aus Altona hat sich dazu gesellt, eine ehemalige Köchin der Herberge und der Hausmeister vom Michel. „Ach, der Heilige ist auch da, hab ich gar nicht gesehen!“, begrüßt ihn einer.

Im Garten steht auch die kleine Kapelle der Seemannsmission. Sie wird nur wenig genutzt. Die untere Etage des runden Schiefertürmchens hat große Fenster, drinnen stehen Sofas und Papierlampen. Sie dient als Aufenthaltsraum. Zum Andachtsraum eine Etage höher führt ein grauer Verbindungsgang aus dem ersten Stock des Heims.

Klaus war noch nie oben, sein Gesprächspartner Wolfgang nur einmal. Bei der Beerdigung eines Mitbewohners vor ein paar Jahren. „Der ist jetzt auf dem Seemannsfriedhof in Ohlsdorf“, sagt Werner. Er ist ebenfalls Rentner, hat eine strubbelige Kurzhaarfrisur und trägt ein ärmelloses grünes Shirt. Werner organisiert den Seemannssonntag ehrenamtlich. Jede Woche. Er bringt Kaffee, rückt Stühle, reicht Kuchen. Auf seinen Arm ist ein kleines Schiff tätowiert. Er war selbst unterwegs. Der Mann mit den blauen Augen kennt den Trott des Seemannsheims, die Männer und ihre Sorgen.

„Wenn er hin ist, ist er hin, was soll man da noch sagen“, sagt Klaus.