: In der Grauzone des Alltags
Der Fotograf Jerry Berndt hat unter anderem das Rotlichtviertel von Boston auf eine Art fotografiert, die über das rein Dokumentarische hinausgeht. Findet jedenfalls das Photomuseum Braunschweig, das den Amerikaner demnächst ausstellt
MAIK SCHLÜTER, 36, leitet das Museum für Photographie in Braunschweig. Vorher war er Kurator bei der Kestnergesellschaft Hannover
INTERVIEW: KLAUS IRLER
taz: Herr Schlüter, kein Mensch kennt Jerry Berndt.
Maik Schlüter: Richtig, er ist auch in seinem Heimatland USA eher unbekannt. Obwohl gerade die Arbeit seiner ersten 20 Jahre als professioneller Fotograf zwischen 1964 und 1984 sehr anspruchsvoll ist. Er gehört er zu einer Generation von FotografInnen, die den Status der Fotografie als Kunst definiert haben und kann auf dem Niveau von Protagonisten dieser Zeit wie Lee Friedlander oder Dianne Arbus mithalten.
Welchem Genre gehört Berndts Arbeit an?
Nicht nur einem Genre. Seine Arbeit „Combat Zone“ ist Street Photography, Berndt war dafür im Rotlichtviertel von Boston unterwegs und konfrontierte sich mit sozialen Ereignissen. Danach macht er dokumentarische Fotografie im Sinne einer Typologie: Er fotografiert Fassaden, Eingangsbereiche von Geschäften, Situationen in der Stadt nachts ohne Menschen – diese Arbeit heißt „Night Works“. Und bei der Arbeit „The Babies“ braucht er die Fotografie nur noch als Mittel, um Inszenierungen zu zeigen, die seine kleine Tochter baut.
Die Halbwelt im Rotlichtviertel ist ein dankbares Sujet, eine gewisse Aufmerksamkeit ist garantiert. Wie schafft Berndt Bilder, die nicht nur vom Voyeurismus leben?
Das hat damit zu tun, dass er sich dort sehr lange, nämlich drei Jahre, aufgehalten hat. Dadurch ist er näher dran und setzt sich Situationen aus, an die andere so nicht rankommen. Aber man muss auch sagen, dass in der „Combat Zone“ ein bisschen Voyeurismus drinsteckt. Man sieht Prostituierte, Trinker und Leute, die die Contenance verloren haben – Voyeurismus ist ja nicht nur sexuell orientiert, sondern auch sozial. Aber vielleicht ist es auch kein Voyeurismus, sondern einfach Fakt.
Worin liegt dann der ästhetische Mehrwert gegenüber rein dokumentarisch orientierter Fotografie?
Es gibt den Begriff der „Misslungenen Fotografie“, bewusst misslungen, als künstlerisches Konzept. Berndts Bilder sind öfter unscharf und grobkörnig und haben dadurch eine eigentümliche Intensität. Die Bilder haben etwas Raues. Außerdem schafft er es, an den spektakulären Ereignissen vorbeizugucken, in einer Grauzone des Alltags zu fotografieren und in sehr banalen Momenten etwas zu verdichten. Und er arbeitet nicht nur mit Einzelbildern, sondern auch mit Sequenzen, die wie eine filmische Erzählung funktionieren. Das ist einer künstlerischen Reflexion geschuldet.
Hatte Berndt selbst einen Kunstwillen?
Das Projekt „Combat Zone“ ist aus dem universitären Kontext gekommen. Ein Professor für „Urban Anthology“ wollte durch einen Feldversuch herausfinden, wie das soziale Leben zwischen Prostituierten, Freiern, Weißen und Schwarzen aussieht. Jerry Berndt hat drei Jahre lang im Auftrag dieses Professors gearbeitet, aber er hat nie einen Kunstanspruch für sich formuliert. Er sagt, er sei Fotojournalist, obwohl er Arbeiten gemacht hat, die man sehr deutlich im Kontext der bildenden Kunst sieht.
Wo verläuft für Sie die Grenze zwischen Fotojournalismus und Fotokunst?
Ein Fotojournalist ist häufig im Auftrag einer Zeitung oder eines Magazins unterwegs und hat eine gewisse Zeit, um ein Thema zu dokumentieren. Der Künstler dagegen gibt sich den Auftrag selber. Außerdem entscheidet die ästhetischen Ausprägung: Fotojournalisten gehen nah ran und scheuen sich nicht, drastische und klischeebeladene Bilder zu zeigen, die auf Anhieb sehr starke Emotionen wecken, aber nie den Kontext zeigen. Das ist bei Berndts frühen Arbeiten nicht so. Er fotografiert an den schockierenden Sachen vorbei, öffnet einen Kontext und bietet eine Erzählung an. Die muss man sich selber erschließen.
Die Schau „Jerry Berndt. Insight.“ ist vom 19. 9. bis 2. 11. 2008 im Photomuseum Braunschweig zu sehen.