: Der Müll ist ein Stuhl
Als Schnittstelle von Nachhaltigkeit und Design will Anna Lena Schiller die Verwertung von Müll zu Möbeln gesellschaftsfähig machen. Upcycling statt Recycling fordert die Jungunternehmerin. Ihr Ziel: ein berlinweites Upcyclingnetzwerk
VON SVENJA BERGT
Er sieht aus wie ein ganz normaler Stuhl. Zumindest fast. Einer von denen, die statt vier Beinen nur zwei Schienen haben und in einer gebogenen Form in die Lehne übergehen. Beim Sitzen lässt es sich angenehm schaukeln – Freischwinger nennen Innenarchitekten daher das Modell. Eines von denen, die in hippen und sonst recht leeren Wohnungen von Anfangdreißigern stehen. Doch dieses Modell hat eine Geschichte.
Die Geschichte des Freischwingers beginnt mit Anna Lena Schiller und Chris Platz auf dem Gelände einer Holzverarbeitungsfima in Berlin-Marienfelde. Gabelstapler fahren mit einem leisen Surren über das Gelände, halb verarbeitete Holzteile glänzen in der Sonne. Anna Lena Schiller und Chris Platz stehen in den Abfallcontainern und wühlen sich durch die Reste. Ein Anzugträger auf dem Weg zur Ausstellungshalle des Unternehmens wirft skeptische Blicke auf die beiden. Plötzlich stößt Platz einen Jubelschrei aus. „Ja, ja, das ist was!“ Vorsichtig bergen die beiden eine tischplattengroße Spanplatte aus dem Container. Bloß nicht werfen, sonst gibt es Schäden. Für Schiller und Platz ist der Müll kein Müll.
Im Gegenteil: Sie schaffen aus dem Müll des einen etwas Wertvolles für den anderen. Upcycling heißt das. Anna Lena Schiller nennt ihr Projekt Trashury. Trash wie Abfall und treasury wie Schatzkammer. Aus Materialien, die für ein Unternehmen Abfall sind, sollen mit Hilfe von Schiller und verschiedenen Designern hochwertige Möbel entstehen. Die Voraussetzungen klingen taumhaft: 46 Millionen Tonnen Müll produzieren die Deutschen pro Jahr. Über zwei Millionen Tonnen davon sind Sperrmüll, fast 700.000 Tonnen Holzabfälle. „Trotzdem ist es das Schwerste, taugliches Material zu finden“, sagt Schiller.
50 Unternehmen hat sie bis jetzt angefragt – von der kleinen Tischlerei bis zum großen Holzhändler. Zu fünf fuhr sie hin und zwei brachten am Ende wirklich etwas. Selbst wenn manchmal Highlights dabei seien – für eine andauernde Kooperation braucht es regelmäßig gleichwertiges Material. Schließlich hat kaum ein potenzieller Käufer Verständnis, wenn der bestellte Stuhl nicht gebaut werden kann, weil statt Buchenholz nur Eisenstangen zur Verfügung stehen. Daher soll Trashury mehr können als nur Möbel: Es soll berlinweit Designer mit Unternehmen, bei denen verwertbarer Müll anfällt, vernetzen.
Bis jetzt ist die Bilanz aber eher solide als herausragend: Zwei Designer und zwei Müllspender hat Schiller bisher zusammengebracht. Sie selbst ist dabei Mädchen für alles: koordiniert Termine zur Materialabholung, fahndet nach geeigneten Mitarbeitern. „Mir geht es mit dem Projekt wirklich um Nachhaltigkeit, darum, die Welt zu verbessern“, sagt Schiller.
Aus ihrem Mund ist das Bekenntnis zur Nachhaltigkeit mehr als eine Floskel. Es ist aber auch nichts, das mit Ökolatschen und Körnern zu tun hat. Sondern damit, wie sich der Alltag mit neuen, kreativen Ideen ökologischer gestalten lässt. „Ich bin jemand, der immer schon Rad fährt, Strom spart und Bioprodukte kauft“, sagt die Jungunternehmerin. Den Impuls für Trashury brachte aber ihr Studium an der dänischen Universität Kaospiloten. „Das ist die Uni für die Leute, die die Welt retten und trotzdem Geld verdienen wollen“, erklärt sie. Als Schwerpunkt wählte sie das Thema Nachhaltigkeit in Kombination mit Design, einfach weil Schiller den Eindruck hatte, dass sich sonst niemand darum kümmert.
Diese Marktlücke macht sich bei einem Blick in die Upcycling-Szene bemerkbar. Zwar finden sich haufenweise Taschen aus Lkw-Plane, zahlreiche Schlüsselanhänger aus Straßenschildern und diverse Tische aus Kabelrollen. Doch sie haben ein Problem: Nur wenige spezielle Erstprodukte sind im Recycling gefragt – der Rest landet nach wie vor auf der Deponie. Lampen aus Schallplatten und Duschkabinen, die in ihrem früheren Leben Telefonzellen waren, sind das andere Extrem: Sie sehen lustig aus, bleiben aber ein Nischenprodukt. „Ich wollte wirklich weg von genau diesen Schallplattenlampen-Caprisonnentaschen-Kram“, sagt Schiller. Sie will alltagstaugliche Möbel schaffen, ganz nach dem Design-Prinzip „form follows function“. „Oder eben auch ‚form follows material‘“, ergänzt sie. Denn wer Möbel aus Müll macht, darf nicht zu wählerisch sein. „Das ist nicht, wie wenn man in einen Laden geht und sagt, ich möchte Tortenboden, Butter und Sahne und backe daraus einen Kuchen. Der Müll ist immer eine Variable.“
Mit dem Berliner Designer Chris Platz und der Röhnert Holzhandelsgesellschaft hat sie daher ein Bilderbuchpaar zusammengebracht. Denn das Holz aus Röhnerts Containern würde sonst auf der Deponie landen. Und für Chris ist die Kooperation vor allem eine finanzielle Erleichterung: Kämen zu der Woche Arbeit, die er an einem Stuhl sitzt, noch die Materialkosten, wäre sein Freischwinger schnell unbezahlbar. Auf Ikea-Preis-Niveau liegen seine Möbel trotzdem nicht. Knapp 700 Euro muss ein Kunde für einen großen Freischwinger auf den Tisch legen.
Platz arbeitet mit Furnier, daher geht ein Teil der Arbeitszeit auf das Leimen und Trocknen zurück. Die dünnen Holzblätter biegt er in die Form und klebt sie in mehreren Schichten übereinander. Die Arbeit mit Furnieren hat gleichzeitig Vorteile für die Umwelt: Sie sind – im Gegensatz zum Vollholz – praktisch frei von giftigen Chemikalien. Gerade alte Möbel sind oft stark mit dem krebserregenden Formaldehyd behandelt, bei neueren gelten zumindest Grenzwerte. Platz’ Design-Stil und Trashury ergänzen sich für ihn ideal.
Die Kooperation lohnt sich auch finanziell immer mehr: Allein der Preis für einen Quadratmeter Multiplex-Holz, das ist besonders stabil, sei im vergangenen Jahr um fünf Euro gestiegen. So sind andere Länder in Sachen Upcycling auch schon um einiges weiter. Holland beispielsweise oder auch Spanien, das sonst in Umweltdingen kaum punkten kann. Gerade kleine Designer entdecken das Prinzip – oft weil sie kein Geld für teure Materialien haben. Auch Schiller hat vor, die Möbel ihrer Designer schon bald in einem Laden zu verkaufen. Wenn es nach ihr geht, bereits Ende des Sommers. Bis dahin muss sie aber noch ein paar Unternehmen und Designer finden – und einiges an Müll.
„Den Abfall in den Händen zu halten – das ist überhaupt am tollsten“, sagt Schiller. „Da merkt man richtig, was daraus werden kann.“ Ein bisschen geht es ihr da wie Oskar aus der Mülltonne oder seinem britischen Pendant, Oscar the Grouch. Der brach beim Anblick von Müll regelmäßig in Jubel aus: „Just looking at this trash makes me feel so good, I feel like singing!“
Die Möbel von Chris Platz gibt es bei www.bieg-o-mat.de, Näheres zu Trashury unter www.trashury.com