„Knacke, wenn dein Nachbar knackt“

Der Bremer Mathematiker Ulrich Krause beschäftigt sich mit Schwarmkoordination: Die ist überall zu finden, wo Massen auftauchen: An der Börse, in Heringsschwärmen und in New Yorks Schuhmode. Das Bremer Viertelfest soll ihm ab heute als Experimentierfeld dienen. Ein Gespräch über die Schönheit der Mathematik, die Weisheit der Vielen und die Bedeutung der Meinungsfreiheit

ULRICH KRAUSE, 65, ist emeritierter Professor für Mathematik an der Uni Bremen. Arbeitsgebiet: Positive dynamische Systeme (u. a. die Dynamik der Meinungsbildung)

INTERVIEW FRIEDERIKE GRÄFF

taz: Herr Krause, würden Sie die Schwarmintelligenz von Heringen höher veranschlagen als die von Menschen?

Ulrich Krause: Ich würde vermuten, dass die Heringe mehr davon haben, weil sie schon Millionen von Jahren trainieren konnten. Dabei kann Schwarmverhalten ebenso für Menschen gut – wie allerdings auch schlecht – sein. Was mich daran interessiert, ist, wie sich eine größere Menge von Lebewesen, auch Robotern, selbst organisieren kann. Der Ausdruck Schwarmintelligenz ist dafür nur eine Metapher.

Die wofür steht?

Für Koordination: Wenn man sich über einen großen Vogelschwarm am Abendhimmel freut, wundert man sich gleichzeitig, wie es den Vögeln gelingt, zusammenzubleiben, aber niemals zusammenzustoßen. Das ist ihnen, anders als den Menschen, angeboren. Aber der Wind ist natürlich immer unterschiedlich, die Vögel müssen die Regeln, denen sie dabei folgen, sinnvoll anwenden. Die Biologen haben das Phänomen beobachtet, aber einem Mathematiker, Steven Strogatz, ist es gelungen, eine Formel dafür zu finden.

Bei menschlichen Gruppen fällt einem weniger Schönes ein: Der Mob bei Übergriffen auf Schwächere, die Hirnlosen, die sich stur vor einer einzigen U-Bahn-Tür aufstellen oder die Massenpaniken aus nichtigen Anlässen.

Nun, sie verhalten sich friedlich bei großen Festen oder in Fußballstadien. Schwarmverhalten kann man aber auch in der Mode untersuchen: Es gab da zum Beispiel eine Studie zur Verbreitung der Hush Puppies in New York, eigentlich einem Gesundheitsschuh, den vorher nur die ganz Gesunden trugen. Man kann Schwarmverhalten aber auch an der Börse beobachten, wenn sich die Leute beim Crash plötzlich nach unten hin koordinieren. Das ist übrigens ein Beispiel für eine spezielle Spielart von Schwarmkoordination, nämlich Meinungsdynamik.

Sind die Ergebnisse nicht deprimierend? Wenn man sich die Themenzyklen in Medien ansieht, hat man den Eindruck, dass das Individuum im Schwarm seine eigene Urteilsfähigkeit zugunsten reiner Mehrheitsverhältnisse aufgibt. Die Frage ist nur noch: Hatten die anderen das Thema, dann müssen wir es auch haben.

Da ist es schlecht. Aber Schwarmkoordination ist in den heutigen Massengesellschaften notwendig, damit es keine Gewalt gibt. Wenn man so will, basiert die gesamte Demokratie auf einem sinnvollen Schwarmverhalten. Von dort kommt man dann leicht zum Thema Weisheit der Vielen.

Weisheit der Vielen?

Das Phänomen wurde von einem berühmten Statistiker, Francis Galton, schon Anfang des 20. Jahrhunderts auf einem Bauernmarkt beobachtet. Er ließ die Bauern schätzen, wie schwer ein Ochse war und kam mit dem Mittelwert der Schätzungen dem tatsächlichen Gewicht verblüffend nahe – dieser Mittelwert ist oft zutreffender als die Schätzung des besten Experten. Das hängt damit zusammen, dass Information immer verteilt ist und nie einer alle Informationen besitzt. Dabei hatte Galton mit dem Experiment eigentlich die Dummheit der Masse belegen wollen.

Beim Viertelfest in Bremen wollen Sie die Weisheit der vielen dadurch prüfen, dass die Besucher schätzen, wie viele Lose in der Tombola sind. Kann man da eigentlich von Experten sprechen?

Vielleicht waren die Leute auf dem letzten Viertelfest oder bei einer anderen Tombola. Es ist immer eine schwierige Frage, was ein Experte sein soll. Man weiß nicht, wie die Informationen in dieser Art von Menge verteilt ist.

Trotzdem scheinen die Mathematiker mit ihren Untersuchungen zum Schwarmverhalten weiter zu sein als die Soziologen, die sich immer noch nicht einig sind, wer dabei Henne und wer Ei ist. Also, ob das Individuum auch in der Masse vor allem seinem Willen folgt, ob es die Masse ist, die das Verhalten des Individuums bestimmt.

Man darf nicht bei der Henne- und-Ei-Frage stehen bleiben. Es gibt beides und die Frage ist, wie die Wechselwirkungen zwischen beiden aussehen. Und das ist etwas, was sich vor allem Mathematiker und Experimental-Physiker fragen. Die Soziologen kucken traditionellerweise, wie etwas auf eine Menschengruppe wirkt – von der Rückkoppelung wissen sie zwar, dass es sie gibt, aber sie haben keine echten Möglichkeiten, damit umzugehen.

Beim Bremer Viertelfest laden die Mathematiker Ulrich Krause und Jan Lorenz ab heute zum größten Experiment zum Thema Schwarmintelligenz in einer Menschenmenge in Deutschland ein. Die Frage ist, ob eine große Menschenmenge ähnliche Selbstorganisationsfähigkeiten hat wie beispielsweise ein Herings- oder Vogelschwarm. Dazu werden Blech-Knackinsekten verteilt, um herauszufinden, ob die Besucher in der Lage sind, sich rhythmisch zu koordinieren. Ort der Veranstaltung ist die Wallwiese in Bremen.  GRÄ

Termine: Freitag, 22. 8.: 18.30 Uhr, 22.30 Uhr, Samstag 23. 8.: 14.30 Uhr, 18 Uhr, 22.15 Uhr, Sonntag 24. 8.: 14 Uhr, 16 Uhr

Und wie wird der Feldversuch zum Schwarmverhalten aussehen?

Die Besucher bekommen Knackinsekten aus Metall und dann knackt jeder spontan vor sich hin. Dann werden testweise Regeln ausgegeben: Man soll Knick-Knack machen, aber es entsteht noch kein synchrones Geräusch. Dann wird gesagt: Knacke, wenn dein Nachbar knackt. Bei dem Testlauf, den wir gemacht haben, ist dann ein sirrendes Geräusch entstanden wie bei ganz vielen Zikaden.

Wollen Sie das Experiment wissenschaftlich auswerten?

Wir betrachten es als Datenerhebung. Es ist nicht nur wissenschaftlich interessant, es ist natürlich auch ein großes Vergnügen. Bei normalen Experimenten muss man die störenden äußeren Einflüsse ausschalten, das können wir hier natürlich nicht. Aber wir zeichnen es auf und teilen die Computerauswertung noch vor Ort mit. Modelle dazu haben wir übrigens schon und das Experiment dient uns dazu, zu sehen, welches der Wirklichkeit am nächsten kommt. Es kann natürlich sein, dass das Experiment misslingt. Aber in jedem Fall wissen wir danach mehr.

Die Mathematik muss eine glückliche Wissenschaft sein.

Das ist ein gutes Wort – und das ist oft von Mathematikern selbst gesagt worden. Es ist ein in gewisser Hinsicht spielerischer Zugang, bei dem die ganze Welt ein großes Spielfeld ist, in der überall Mathematik vorkommt. Und das andere ist: Um etwas herauszufinden, muss man sich ziemlich quälen, die Ausbildung ist auch bitter, aber wenn man eigene Ergebnisse findet, verschafft es so viel Befriedigung: Niemand kann es einem mehr wegnehmen. Richtig ist richtig und das gibt es sonst kaum, diese eindeutige Form von Richtigkeit.