: Die USA umarmen
Polen will sich mit dem Raketenabwehrschild gegen Russland und andere „Schurkenstaaten“ schützen. Dass dieser Schild gar nicht funktioniert, ist nebensächlich
Christian Semler, 69, war schon vor seiner fast 20-jährigen taz-Zeit mit den polnischen Verhältnissen beschäftigt – publizistisch und als Mitglied des Komitees „Solidarität mit Solidarność“. Er ist und bleibt Polen in kritischer Solidarität verbunden.
Mit der vorgestern zwischen den USA und Polen vereinbarten Stationierung eines Raketenschilds in Nordostpolen wird eine untaugliche Verteidigung gegen einen nicht existierenden Angreifer etabliert. Glaubte man jedoch den beteiligten Staatsmenschen, so wäre dieses Raketenabwehrsystem eine rein defensive Maßnahme zum Schutz der Bevölkerung der USA wie auch der Europas.
Zusammen mit der bereits beschlossenen Radarstation in Tschechien sollen Sprengköpfe mit Massenvernichtungswaffen, abgeschossen auf Trägerraketen vom Territorium von Schurkenstaaten, mitten in ihrem Lauf durch Abwehrraketen getroffen und zerstört werden. Schon der schieren Existenz der Schilde wird von den USA-Strategen eine abschreckende Wirkung auf die „Schurkenstaaten“ zugeschrieben. Mehr noch: Raketenschirme sollen zukünftig die aus der Zeit des Kalten Krieges stammenden Abschreckungsstrategie, die „mutual assured destruction“ (sinnfälligerweise abgekürzt mit „mad“), überflüssig machen und damit den Ausstieg aus einer perversen Logik ermöglichen.
Indes stehen die Milliardensummen im amerikanischen Verteidigungsetat, die jährlich für die Entwicklung des Schilds ausgegeben werden, in keinem Verhältnis zu seinem möglichen Einsatz. Amerikanische Physiker, darunter zwei führende Raketenspezialisten, bezweifeln, dass in absehbarer Zeit das Projekt überhaupt technisch realisierbar ist. Sie verweisen auf die generelle Unzulänglichkeit der Tests sowie zahlreiche Testfehlschläge, erläutern die Schwierigkeiten beim Orten der Sprengköpfe im All und zeigen, wie leicht die Abschussraketen ablenkbar sind. Ein so wenig ausgereiftes System kann demnach auch keine abschreckende Wirkung auf die Absichten potenzieller Angreifer entfalten.
Die eigentliche Schwachstelle in der Begründung des Raketenschilds ist aber politischer Natur. Wer sind eigentlich die Schurkenstaaten und worin besteht ihr schurkischer Charakter? Ein Schurke nach dem anderen verschwindet aus dem Visier der USA; nach Nordkorea bleibt jetzt nur noch der Iran übrig. Was sollte das dortige theokratische Regime veranlassen, Amerikaner mit Massenvernichtungswaffen zu überziehen? Dafür gibt es keine Begründung. Umso mehr, als keineswegs sicher ist, ob die USA im Fall eines Angriffs nicht atomar antworten würden – selbst wenn der Raketenschild funktionieren würde. Rationale Nutzen-Kosten-Kalküle sind auch Despoten nicht fremd. Die Verfechter der „Schurkenstaat-Theorie“ müssten begründen, dass aus dem despotischen Charakter des Mullah-Regimes eine irrationale Handlungsweise in der Außenpolitik folgt. Doch diese Annahme können sie nicht plausibel untermauern.
Man kann annehmen, dass der polnischen Regierung die technischen wie politischen Einwände gegen den Raketenschild geläufig sind. Ebenso klar ist aber, dass diese Einwände bei der Entscheidung zugunsten des Schilds nie eine Rolle gespielt haben. Von vereinzelten offiziellen Verlautbarungen abgesehen, fand der Iran als potenzieller Angreifer nie eine Erwähnung. Was aber sind dann die Motive der polnischen Regierung? Hören wir den polnischen Premier am Vorabend der Unterzeichnung des Vertrages: „Zum ersten Mal in der Geschichte des feindunabhängigen Polen seit 1989 nimmt unser nationaler Traum eine praktische Dimension an.“
„Nationaler Traum“ meint, endlich dem Verhängnis zu entkommen, nach dem Polen eingeschnürt war zwischen zwei aggressiven Mächten, Deutschland und Russland. Die deutsche Drohung ist nach der Meinung der jetzigen polnischen Regierung unter Donald Tusk gegenstandslos geworden. Bleibt die Bedrohung durch Russland. Offensichtlich schätzt die politische Machtelite Polens diese Bedrohung als so schwerwiegend ein, dass ihr als Nato-Mitglied die gegenseitige Bündnisverpflichtung auf Grund des Nato-Vertrags nicht ausreicht. In der Stationierung des Raketenschilds sieht sie ein Instrument, Polen mit den USA militärisch stärker zu verkoppeln. Dem dient auch die ständige Stationierung von USA-Patriot-Abwehr-Raketen gegen Angriffe von Kurz- und Mittelstreckenraketen aus östlicher Richtung. Und auch die versprochene amerikanische Hilfe bei der Modernisierung der polnischen Luftstreitkräfte folgt dem gleichen politischen Motiv.
Das polnische Bedrohungsszenario ist mittlerweile zu einem außenpolitischen Dogma geworden. Kern dieses Dogmas ist die These vom unwandelbar imperialen Charakter des gegenwärtigen russischen Regierungssystems, das danach strebt, den sowjetischen Gebietsstand der Zeit vor 1989 wiederherzustellen. Dogmatisch ist diese These nicht deshalb, weil sie dem autokratischen Russland imperiale Absichten unterstellt. Sondern weil sie nicht nach den Interessenlagen und Konflikten in den jeweiligen Regionen fragt und die globale Rivalität zwischen den USA und Russland um Einflusszonen ignoriert.
Gerade der jüngste Krieg in Georgien illustriert dieses Dogma. Ohne einen Gedanken auf die Minderheitenproblematik in Gestalt von Südossetien und Abchasien zu verwenden, ohne jede Berücksichtigung der widerstreitenden ökonomischen Interessen konzentriert sich die polnische Politik allein auf die Verurteilung der russischen Invasion in Georgien. Der polnische Präsident hält eine kriegshetzerische Rede in Tiflis, in der er zum „Kampf“ aufruft. Währenddessen unterstellt die polnische Diplomatie einer Reihe von europäischen Staaten, sie hätten durch ihre Weigerung, Georgien die Nato-Mitgliedschaft anzubieten, erst die russische Intervention ermöglicht. In der polnischen Publizistik ist von Appeasement die Rede. Ungehemmt wird dadurch die historische Analogie zu dem Versagen der Westmächte gegenüber Hitler in den 30er-Jahren bemüht.
Die Idee, Polen sei durch die imperiale Politik Putins in seiner Unabhängigkeit bedroht, kann sich auf keinerlei Fakten stützen. Hinsichtlich der Ukraine wird mittlerweile der russischen Politik eine offene Annexionsabsicht unterstellt. Wie aber verhält es sich umgekehrt mit den russischen Befürchtungen hinsichtlich des Raketenschilds in Polen und Tschechien? Diese Befürchtungen sind zwar propagandistisch aufgebläht, aber –mittelfristig gesehen – nicht ganz grundlos. Denn weder gibt es eine Garantie, dass die Radaranlage in Tschechien nicht so aufgerüstet wird, dass sie in Richtung Russland für Spionagezwecke eingesetzt werden kann. Noch ist ausgemacht, dass nicht die Stationierung einer großen Zahl von Abfangraketen das System auch gegenüber Russland einsatzfähig machen würde.
Falls es wirklich um die „Schurkenstaaten“ ginge, wäre es möglich, Russland gleichberechtigt in die Stationierung eines Abwehrsystems einzubeziehen. Gerade dies aber wird von der polnischen Regierung zurückgewiesen. Soll die Russlandpolitik der Konfrontation folgen oder soll sie auf verschiedene Formen der Einbeziehung orientieren? Wir sind bereits mitten in der Auseinandersetzung.
CHRISTIAN SEMLER