: Das hochprozentige Hochformat
Der weltberühmte Filmemacher Ralph von Schönhausen bereichert die Hochkultur
Der Techniker Erwin Entenmann hatte lange auf die Ankunft des großen Regisseurs gewartet. Die Sonne war gerade versunken, als er sah, wie der legendäre Ralph von Schönhausen mit feierlichem Schritt eintrat. Majestätisch ignorierte der Spätankömmling die Schar seiner beflissenen Assistenten, die Picknickkörbe, Kühltaschen und diverse Tabletts mit Cocktailgläsern und Lachsbrötchen hinter ihm her trugen. Man fächelte ihm kühle Luft zu. Ein roter Teppich entrollte sich.
Ob denn auch alles zu seiner Zufriedenheit bestellt sei, wurde gefragt. Doch von Schönhausen schwieg und glitt leichten Schrittes dahin. Herr von Schönhausen wünsche in Gedanken zu verweilen, zischelte sein persönlicher Lufterfrischer und betupfte ihm die Stirn mit frischem Champagner.
Erwin empfand für den würdevollen Auftritt tiefes Verständnis. Schließlich galt der Mann mit den goldenen Federn am Strohhut als ganz große Hoffnung in der Filmszene. Allerhöchste Ansprüche waren viel zu niedrig für dieses Genie. Der Nachtwind umspielte Schönhausens gerötete Nase, als er mit kritischem Blick das Gelände des Freilichtkinos musterte. Alles war für die Voraufführung seines jüngsten Werkes bereit. „Und wie weit ist das Volk mit den Vorbereitungen?“, rief er mit fast tadelnder Stimme in die Menge und naschte von den gereichten Weintrauben. „Alles läuft nach Plan“, sagte Erwin während er sich am Kopf kratzte. Der große von Schönhausen grummelte: „Und was ist mit dem Projektor?“, wollte er wissen. „Den haben wir bereits umgelegt, wie Sie angeordnet haben. Der liegt jetzt auf der Seite, ist zum Teil kaputt. Aber ein bisschen funktioniert er noch.“
„Sehr gut!“, kam die überraschende Antwort. „Und wie sieht es mit der Leinwand aus?“ Erwin schluckte und deutete in die Ferne. „Die haben wir abgerissen, wie es gefordert war!“ – „Bravo!“, applaudierte Schönhausen während er sich den Mund abtupfen ließ. „Dann kann es ja losgehen!“
„Doch gestatten Sie mir eine kleine Frage“, sagte Erwin verlegen. „Wie sollen wir den Film zeigen ohne Leinwand?“ Schönhausen zog eine Augenbraue empor. „Nun, Ihnen kann ich es ja sagen. Sie sind ja ein Mann mit künstlerischem Verstand, das sieht man ja … Selbstverständlich sollte die Leinwand nur deshalb abgerissen werden, damit sie gleich darauf wieder erneut aufgebaut werden kann!“
In diesem Moment wurde Erwin Entenmann bewusst, dass vor ihm eine Persönlichkeit stand, die wild entschlossen war, alles und jeden in die Sphäre der eigenen Genialität hineinzuziehen. „Ah ja“, sagte Erwin, „wir sollen die Leinwand jetzt neu installieren, nachdem wir sie stundenlang auf ihren Wunsch hin abgerissen haben?“
„Aber selbstverständlich!“, tobte von Schönhausen, „ohne Leinwand geht’s ja nun nicht! Wir wollen doch etwas sehen!“ Mit seinen beiden ausgestreckten Zeigefingern wies der Filmemacher von Welt wie unter Schmerzen auf seine Augäpfel, als müsse er den genauen Ort der menschlichen Sehorgane erklären. Wütend riss er seinen Samtumhang vom Hals und warf ihn dem Schuhputzer in den Nacken, der ihm hingebungsvoll die Sandaletten mit Kaviar nachgeschwärzt hatte. „Selbstverständlich müssen sie die Leinwand wieder aufbauen! Nur anders!“ – „Wie, anders …?“ – „Mensch, verstehen sie denn nicht?“, krakelte Schönhausen, „die Kunst braucht neue Formate! Raus aus den alten Sehgewohnheiten! Mal den Guckapparat kräftig durchlüften! Dieses verdammte Format 16:9, das ist doch von gestern! Heute sind wir viel weiter! Heute machen wir nicht mehr 16:9 …“ Er machte eine schöpferische Pause, um dem Nachtwind Gelegenheit zu geben zu verklingen. „… wir machen 9:16!“
Erwin hörte die Nachteule am Waldesrand krächzten. „Jawohl, mein guter Entenmann: Ich will das totale Format! Ich will das Hochformat!“, schrie Ralph von Schönhausen verzückt von seinem ebenso genialen wie generösen Kunstwollen in die Menge, die vor im verharrte.
Ein Diener beugte sich zu Erwin Entenmann und flüsterte: „Diese wundervolle Idee hatte er neulich in einem Nobellokal, als er völlig im Rausch war. Er nennt das Hochkultur.“
Feierlich breitete Ralph von Schönhausen die Arme aus. „Wir machen ein packendes Melodrama über Isaac Newtons Entdeckung der Gravitationsgesetze! Schonungslos! Mitreißend! Alles wird zu sehen sein, mein bester Erwin, mein lieber Entenmann, wir werden nichts auslassen! Die ganze Geschichte! Zuerst der Baum, unfassbar hoch …“ Schönhausen reckte den Arm in den Nachthimmel, „… dann der Apfel … und dann: Rumms, fällt er runter! Und fällt … und fällt! Eine lange, lange packende Reise in Richtung Erdmittelpunkt. Wir werden die dramatische Fallhöhe völlig neu definieren!“
Erwin Entenmann starrte zu den Sternen empor und sagte: „Hauptsache, alles ist voll im Bild.“ Hinter sich hörte er die verliebte Stimme des Ralph von Schönhausen: „Entenmann, sie sind ein Fuchs. Ich engagiere sie auf Lebenszeit. Sie sind mein Mann!“ SVEN GARBADE